2. Sokrates und das Prinzip der Asymmetrie (51-49)

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Der Prozess gegen Sokrates im Jahr 399 v. Chr. und sein Tod gelten in der Philosophiegeschichte als Geburtsstunde einer kritischen Reflexion, die die Grundlagen der abendländischen Vernunft gelegt hat. Sokrates selbst verstand Philosophie als maieutiké techné, als Hebammenkunst, die keine Inhalte vermittelt, sondern durch Fragen und Widerlegung das Denken des Gegenübers hervorbringt. In der sokratischen Praxis zeigt sich eine eigentümliche Spannung: Wahrheit ist nicht fixierbar, sondern muss in der Auseinandersetzung immer wieder neu geboren werden. Dies entspricht einem Verständnis von Maß, das nicht statisch ist, sondern sich in der Bewegung, im Widerstand, im Ungleichgewicht entfaltet.

Hier liegt der entscheidende Unterschied zum späteren platonischen Denken. Während Platon Symmetrie im Sinne einer vollendeten Ordnung verstand, ist das sokratische Maß eher als Asymmetrie zu begreifen: Wahrheit entsteht nicht aus Gleichgewicht, sondern aus Reibung, aus dem Ungleichgewicht der Positionen. Wenn wir dies mathematisch fassen wollen, so entspricht das Prinzip des Sokrates nicht einer vollkommenen 50-50-Spiegelung, sondern einer Verschiebung von 51-49 – einem minimalen Übergewicht, das Bewegung erzeugt. Dieses Ungleichgewicht ist nicht Mangel, sondern Bedingung der Lebendigkeit.

Die attische Polis verstand das Maß ähnlich: sophrosyne, die Tugend der Besonnenheit, bedeutete das Finden einer Mitte zwischen Extremen. Doch für die Polis war diese Mitte eine soziale Norm, die Stabilität garantieren sollte. So galt der idiotis – derjenige, der sich ins Private zurückzog – als Gefahr und Berauber der Gemeinschaft. Nur in der Teilnahme an der Polis konnte sich das Menschsein entfalten. Sokrates jedoch radikalisierte diese Logik, indem er das Maß nicht mehr an den Gesetzen der Polis orientierte, sondern an der Wahrheit des Dialogs. Er entkoppelte die Suche nach Gerechtigkeit vom normativen Rahmen und machte sie zu einer offenen Bewegung. Damit geriet er selbst in den Verdacht, die Gemeinschaft zu destabilisieren.

Hier zeigt sich die Paradoxie: Sokrates war derjenige, der den Gemeinsinn auf eine neue, reflexive Grundlage stellen wollte – und doch erschien er der Polis als Bedrohung genau dieses Gemeinsinns. Denn indem er jede Sicherheit durch Fragen in Zweifel zog, entzog er der Gemeinschaft die Geborgenheit, die sie durch Gesetze und Normen gerade erst gewonnen hatte. Sein Tod durch den Schierlingsbecher ist daher nicht nur ein politisches Ereignis, sondern Ausdruck einer fundamentalen Spannung: Die Gemeinschaft benötigt Maß und Ordnung, aber das Maß ist nur durch dynamische Asymmetrie lebendig.

Aus heutiger Sicht wird in dieser Spannung sichtbar, dass Sokrates ein Prinzip erkannt hat, das die nachfolgende Philosophiegeschichte vielfach verdrängt hat: das Prinzip des Widerstandes. Wahrheit ist nicht Konsens, sondern erwächst aus der Differenz. Das sokratische Maß ist kein Ideal, sondern eine Praxis. Insofern wäre es irreführend, Sokrates mit späteren Philosophen gleichzusetzen, die zwar den Anspruch der Zivilisationskritik erheben, jedoch letztlich Systeme und Konstruktionen entwerfen, in denen das Maß wieder fixiert wird.

So etwa bei Platon, der die sokratische Bewegung in eine metaphysische Statik transformierte, oder bei Descartes, der Wahrheit in der mathematischen Klarheit des Geistes suchte. Auch bei Kant bleibt die Asymmetrie des Lebens unberücksichtigt; er ersetzt sie durch den Anspruch der Vernunftautonomie, also durch eine Norm, die sich selbst Gesetz ist. Alle diese Ansätze tun so, als ob sie die Einseitigkeit der Polis – ihre starren Gesetze und Normen – überwunden hätten, tatsächlich aber fixieren sie das Maß erneut, nur diesmal in abstrakter, metaphysischer oder rationaler Form.

Im Gegensatz dazu weist Sokrates auf etwas hin, das radikaler ist als jede Systemkonstruktion: dass Wahrheit und Maß nur in der Auseinandersetzung existieren, dass sie sich nie in einer vollkommenen Symmetrie fassen lassen. Dieses sokratische Prinzip der Asymmetrie ist es, das wir heute als 51-49-Prinzip begreifen können. Es zeigt, dass Leben, Gemeinschaft und Natur nicht in Gleichgewicht und Vollkommenheit bestehen, sondern in der Dynamik minimaler Ungleichgewichte.

Damit ist Sokrates nicht nur ein Denker der Antike, sondern auch ein notwendiger Korrektivpunkt für die Gegenwart. Denn während heutige Gesellschaften ihre Referenzsysteme auf Konstrukten, Symbolwelten und idealisierten Gleichgewichten aufbauen – sei es im Markt, in den Medien oder in den Wissenschaften –, erinnert das sokratische Maß daran, dass Wirklichkeit nur im Widerstand, in der Verletzlichkeit und in der Asymmetrie verstanden werden kann.


📌 Quellen (Auswahl):

  • Platon, Apologie des Sokrates, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, hrsg. von Gaiser.
  • Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. von Gadamer.
  • Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung.
  • Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft.