23.3.2025b

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Ihre Beobachtungen verbinden auf bemerkenswerte Weise zentrale Begriffe aus der Philosophie, Theaterwelt und Ästhetik und verknüpfen diese mit der Entwicklung des modernen Individuums, dem Konzept der Praxis, dem Theorie-Begriff sowie dem von Ihnen beschriebenen Symmetriedualismus und Perfektionismus.

Um diesen Gedankengang analytisch weiterzuentwickeln, lohnt es sich, die folgenden Aspekte zu vertiefen:

  1. Die Ursprünge des Begriffs „Praxis“ in der antiken Philosophie und Theaterwelt
  2. Die Trennung von Praxis und Theorie: Der Dualismus und seine Folgen
  3. Platon und der Weg zur Aufklärung: Die Idealisierung von Perfektion und Symmetrie
  4. Die Kunst als Bühne der Handlung und Identität
  5. Das moderne Individuum als Maske: Die Illusion der Kontrolle und die Verdrängung der Verletzlichkeit

1. Der Begriff „Praxis“ und seine Verbindung zur Theaterwelt

Der Begriff „Praxis“ (πρᾶξις) entstammt dem griechischen Denken und bezeichnete ursprünglich:

  • Tätiges Handeln, das nicht bloß auf Wissen basiert, sondern auf unmittelbarer Erfahrung und sozialer Interaktion.
  • Im Gegensatz zur Theoria (θεωρία), die reines Zuschauen und Betrachten bedeutete, war Praxis stets ein eingreifendes Handeln — ein Tun, das Konsequenzen hervorbringt.

Praxis als theatralisches Konzept

  • Die griechische Theaterwelt war eng mit diesem Praxisbegriff verbunden:
    • Schauspieler (die „Personare“, also Maskenträger) traten in der Rolle auf, um gesellschaftliche und menschliche Konflikte darzustellen.
    • Die Handlung auf der Bühne (die „Praxis“) spiegelte reale menschliche Prozesse wider und diente zugleich als Erfahrungsraum für das Publikum.

➡️ Erkenntnis: Die Praxis war hier kein Selbstzweck — sie war stets an die Gemeinschaft gebunden und diente dazu, soziale Normen zu reflektieren und gemeinsame Werte zu stärken.


2. Die Trennung von Praxis und Theorie: Der Dualismus und seine Folgen

Mit der Philosophie Platons setzte eine entscheidende Wende ein, die das Verhältnis von Praxis und Theorie radikal veränderte.

Platons Welt der Ideen und der Symmetriedualismus

  • Platon betrachtete die sinnlich erfahrbare Welt als fehlerhaft, vergänglich und unvollständig.
  • Die „wahre“ Realität verortete er in der Welt der Ideen, die als vollkommen, unveränderlich und symmetrisch gedacht wurde.
  • Daraus folgte ein tief verwurzelter Dualismus:
Ebene Merkmal
Theorie (Ideenwelt) Perfektion, Ordnung, Harmonie, Unverletzlichkeit
Praxis (Erfahrungswelt) Chaos, Unvollkommenheit, Vergänglichkeit, Unsicherheit

➡️ Folge: Das Denken wurde zur höchsten Form menschlicher Existenz erhoben, während das tätige Handeln und die reale Erfahrungswelt abgewertet wurden.


Verbindung zum Perfektionismus

Der von Ihnen beschriebene Symmetriedualismus und die daraus resultierende Sehnsucht nach Perfektion haben ihre Wurzeln genau in diesem platonischen Denken:

  • Die Idee, dass wahre Erkenntnis nur durch das Streben nach dem Vollkommenen entsteht, führte zur Vorstellung, dass der Mensch seine Umwelt und sogar sich selbst durch Kontrolle und Optimierung perfektionieren könne.
  • Dies legte den Grundstein für die späteren Konzepte der Rationalität, des Super-Individuums und der Illusion, der Mensch könne sich vollständig von seinen Abhängigkeiten lösen.

➡️ Erkenntnis: Platons Ideal einer symmetrischen und perfekten Welt erzeugte den Gedanken, dass das Leben und die Realität letztlich „kontrollierbar“ seien — eine Vorstellung, die bis heute in vielen kulturellen und wissenschaftlichen Denkmustern fortwirkt.


3. Die Aufklärung als Wende zur Autonomie und Kontrolle

In der Aufklärung wurde Platons Gedanke der reinen Vernunft wiederbelebt und auf das Individuum übertragen:

  • Das Subjekt wurde zum Zentrum des Denkens.
  • Die Vorstellung, dass der Mensch durch Wissen und Selbstreflexion zur vollkommenen Kontrolle über seine Umwelt gelangen könne, prägte das moderne Selbstverständnis entscheidend.
  • Diese Idee gipfelte in der Vorstellung des „Super-Individuums“ — eines isolierten Ichs, das glaubt, sich durch Rationalität, Logik und Symbolsysteme unangreifbar zu machen.

➡️ Erkenntnis: Mit der Aufklärung wurde die Vorstellung von Perfektion, Planung und rationaler Kontrolle zur dominanten Denkweise — und verdrängte damit zunehmend die Wahrnehmung der eigenen Abhängigkeit und Verletzlichkeit.


4. Die Kunst als Bühne der Handlung und Identität

In dieser Logik wurde die Kunst zunehmend zur einzigen verbliebenen Sphäre, in der Praxis und Theorie, Erfahrung und Symbol, Chaos und Ordnung noch miteinander in Beziehung standen.

Theater als Spiegel der Wirklichkeit

  • Im Theater wird die Bühne zur Schnittstelle zwischen Abstraktion und Erfahrung.
  • Der Schauspieler verkörpert dabei eine Maske (lat. persona) — eine künstliche Identität, die zugleich echt und symbolisch ist.
  • Während der Zuschauer das Geschehen beobachtet (Theorie), befindet sich der Schauspieler mitten in der Praxis — in der Handlung mit all ihren Unsicherheiten und Konsequenzen.

➡️ Erkenntnis: Die Kunst bewahrt eine Form von Handlung, die nicht durch Perfektionismus oder Kontrolle blockiert ist, sondern offen für Unvorhersehbarkeit und Verletzlichkeit bleibt.


5. Der moderne Mensch als Maske und Handlungsprodukt

Der von Ihnen beschriebene Gedanke, dass der moderne Mensch zu einem Handlungsobjekt oder sogar einem Produkt seiner eigenen Selbstinszenierung geworden ist, knüpft genau hier an.

  • Der Mensch wird zunehmend zum „Akteur ohne Handlung“: Er präsentiert sich in sozialen Medien, im Konsumverhalten und im Arbeitsleben als eine optimierte Figur — vergleichbar mit einer Maske auf der Bühne.
  • Gleichzeitig verliert er das Bewusstsein für die realen Konsequenzen seines Tuns, weil seine Handlungen zunehmend symbolisch und abstrakt geworden sind.

Beispiel:

  • Influencer und Social-Media-Profile inszenieren sich als perfekte Personen (Symmetriedualismus), während echte Emotionen, Unsicherheiten und Konsequenzen in den Hintergrund rücken.
  • Der Mensch wird zum „Schauspieler seiner selbst“ — er agiert symbolisch, aber nicht mehr in der Welt der echten Konsequenzen.

➡️ Fazit: Der moderne Mensch lebt zunehmend in der „Theorie-Welt“ — er sieht sich selbst und seine Umwelt als perfekte, kontrollierbare Konstruktion, während die reale „Praxis-Welt“ mit ihren Konsequenzen ausgeblendet wird.


6. Schlussfolgerung: Der Mensch muss zur „Praxis“ zurückkehren

Um den von Ihnen beschriebenen Konstruktionsfehler zu überwinden, muss der Mensch lernen, sich wieder als handelndes Wesen in einer Welt realer Konsequenzen zu begreifen.

Wege zur Wiederentdeckung der Praxis:

Künstlerische Prozesse, die direkte Erfahrung fördern.

Erfahrungslernen, das den Umgang mit Unsicherheit und Konsequenzen ermöglicht.

Rituale und Praktiken, die den Menschen wieder in die „Verletzungswelt“ zurückführen.

Anerkennung der eigenen Abhängigkeit und Verwundbarkeit als Grundlage verantwortlichen Handelns.

➡️ Erst wenn der Mensch lernt, dass echte Handlung stets mit Unsicherheit, Konsequenzen und der Erfahrung von Verletzlichkeit verbunden ist, kann er die Illusion der „Unverletzlichkeitswelt“ durchbrechen.


❗️ Nächster Schritt:

Möchten Sie diese Analyse weiter vertiefen — etwa durch Beispiele aus der Kunst, der Pädagogik oder gesellschaftlichen Prozessen, die diese „Rückkehr zur Praxis“ fördern können?