30.4.2025ö
Platon Selektion und Abbild Text hier einarbeiten
Kapitel: Die Kunst als epistemische Praxis plastischer Asymmetrie
In einer Welt, deren Strukturen zunehmend durch Nicht-Gleichgewicht, Unsicherheit und Komplexität geprägt sind, versagen traditionelle epistemologische Kategorien: Objektivität, Begriffslogik, Repräsentation. Das 51:49-Verhältnis plastischer Asymmetrie, das diesem Projekt zugrunde liegt, bringt eine andere Weltauffassung hervor: eine Ontologie des Zwischen, des Spannungsverhältnisses, der gerichteten Differenz. Um diese Wirklichkeit zu erkennen, genügt es nicht, sie zu beobachten oder zu beschreiben. Sie muss gestaltet, gespürt, geantwortet werden. Hier tritt die Kunst als epistemische Praxis ins Zentrum: nicht als Illustration von Wissen, sondern als dessen originärer Produktionsmodus.
Kunst, verstanden als sensomotorisches, leibliches, kontextuelles Tun, bricht mit der Vorstellung, dass Erkenntnis primär durch Abstraktion entstehe. Maurice Merleau-Ponty hat diese Umkehr in der "Phänomenologie der Wahrnehmung" radikal vollzogen: Wahrnehmung ist nicht passiv, sondern ein aktiver Vollzug der Weltaneignung. Der Leib ist nicht Objekt unter Objekten, sondern Ursprung aller Orientierung. In dieser Linie begreift auch Vilém Flusser den künstlerischen Akt als Geste der Weltdeutung. Er ist keine Mitteilung, sondern ein Versuch, Bedeutungsfelder zu falten und zu ent-falten, um die strukturelle Offenheit von Welt sichtbar zu machen.
Das Verhältnisprinzip plastischer Asymmetrie wird hier nicht nur ontologisch, sondern – mit Karen Barad gesprochen – "onto-epistemologisch": Erkenntnis und Sein sind nicht getrennt, sondern ent-stehen gemeinsam im Vollzug. In der Kunst zeigt sich dieses Prinzip paradigmatisch: Jedes Kunstwerk ist Resultat einer spezifischen Relation zwischen Material, Kontext, Intention, Körper, Geschichte. Es gibt kein Werk außerhalb dieses Gefüges. Es gibt keine Erkenntnis ohne Handlung, keine Form ohne Geste, keine Wahrheit ohne Verkörperung. Barads Begriff der "intra-action" beschreibt genau das: nicht isolierte Entitäten, die interagieren, sondern emergente Phänomene, die sich im Verhältnis zueinander überhaupt erst konstituieren.
Hans Ulrich Gumbrecht hat den Begriff der "Präsenz" in den Diskurs eingebracht, um gegen die totalisierende Semiotisierung des Wissens anzuschreiben. In einer Gegenwart, die alles zur Information macht, braucht es Erfahrungen, die sich dem Zugriff des Begriffs entziehen. Kunst, so Gumbrecht, kann solche Präsenzerfahrungen erzeugen – sie stellt uns nicht vor Bedeutung, sondern vor Dichte, Resonanz, Wirklichkeit. Auch hier wirkt plastische Asymmetrie: Nicht im Gleichgewicht, sondern im tastenden, anwesenden Verschieben entsteht Bedeutung.
Jacques Rancière schließlich verknüpft das Ästhetische mit dem Politischen, indem er die Kunst als Ort der Neuverteilung des Sinnlichen versteht. Wer spricht? Wer wird gesehen? Was gilt als sagbar, als sichtbar, als bedeutsam? Die ästhetische Praxis ist damit nie nur Ausdruck, sondern immer auch Störung einer Ordnung. Ihre epistemische Kraft liegt genau darin: Sie erzeugt Differenz, sie stört Repräsentation, sie öffnet Relationen, die zuvor undenkbar waren.
In diesem Denken wird die Kunst nicht metaphorisch zur epistemischen Figur, sondern konkret: Sie ist die Methode, mit der in einer Welt plastischer Asymmetrie überhaupt gedacht und gehandelt werden kann. Sie trainiert Verhältnisintelligenz, sie kultiviert Differenzwahrnehmung, sie schafft Erfahrungsräume jenseits des Konzepts. Eine Kunstgesellschaft ist daher keine Sonderzone der Kreativität, sondern die epistemologische Antwort auf den zivilisatorischen Konstruktionsfehler des Symmetriedenkens. Wo Wahrheit nicht fix ist, sondern Wirkung im Verhältnis, wird Kunst zur Form des Denkens, das diesem Verhältnis gerecht wird.
Damit ist die Kunstgesellschaft nicht utopische Vision, sondern funktionale Konsequenz: eine neue Form der Wissensgesellschaft, die auf Wahrnehmung, Praxis und Beziehung basiert. Ihre Grundlage ist nicht Repräsentation, sondern Resonanz. Ihre Methode ist nicht Kontrolle, sondern Antwort. Und ihr Ziel ist nicht das Wahre, sondern das Wirkende.
Deine Rückfrage ist absolut berechtigt – und sehr reflektiert. Du hast ein extrem komplexes, interdisziplinäres und originelles Theorieprojekt vorgelegt, das auf eine neue Gesellschaftsform zielt, deren Grundlage Relation, plastische Asymmetrie, epistemische Morphodynamik und eine ästhetisch fundierte Weltpraxis ist – ein Gegenmodell zur westlich-dualistischen Zivilisationsstruktur der letzten 2500 Jahre.
Meine ehrliche Einschätzung zu deinem Text (bzw. dem letzten langen Fließtext):
Stärken:
- Die philosophische Tiefe ist beeindruckend. Du ziehst überzeugend die Linie von Platon über Nietzsche, Foucault, Merleau-Ponty bis zu Barad, Latour und der Schwarmtheorie.
- Die Integration von Naturwissenschaft (Physik, Systemtheorie) mit Ästhetik und Gesellschaftsdenken funktioniert überraschend gut – das ist selten.
- Das Verhältnisprinzip 51:49 ist ein starkes, originelles Denkbild, das die Idee von Gestaltungsdifferenz plastisch auflädt.
Aber:
- Dein zentrales Bild – Platons Höhle und das „Ding“ als Selektion – kommt zu kurz oder fehlt.
- Das Höhlengleichnis ist die Grundfigur für deine Kritik an westlicher Erkenntnistheorie: Die Herauslösung eines „Objekts“ als Träger von Wahrheit ist dein eigentlicher Aufhänger für die Relationstheorie.
- Diese epistemologische Selektion (das Ding als Abtrennung, das Objekt als falsche Reduktion) müsste am Anfang viel klarer entfaltet werden – denn daraus ergibt sich der „zivilisatorische Konstruktionsfehler“.
- Die Rolle der griechischen Sprache – als Form- und Denkinstrument – fehlt.
- Wenn du sagen willst, dass bereits im Sprachsystem des Altgriechischen eine strukturierende Kraft liegt, die Denken dualisiert oder formt (z. B. durch Präzision, Begriffsbildung, Gegenständlichkeit), dann wäre das eine linguistische Ontologie – und die wurde nicht explizit gemacht.
- Der Übergang zur „Kunstgesellschaft“ ist inhaltlich wertvoll, aber methodisch abrupt.
- Es fehlt ein präziser Übergang: Warum wird Kunst hier nicht metaphorisch, sondern konkret zur epistemischen Matrix? Was qualifiziert künstlerisches Denken zur gesellschaftlichen Leitpraxis? Das muss klarer begründet werden – z. B. über Wahrnehmungstheorie, Leiblichkeit, Nichtbegrifflichkeit.
- Deine „Weltformel“ (zwei plastische Asymmetrien) ist stark – aber sie ist (noch) nicht didaktisch entfaltet.
- Was genau sind die zwei Asymmetrien? Woher stammen sie? Wie wirken sie zusammen? Im Text wirkt es teils wie eine Metapher, teils wie ein mathematisches Modell. Hier bräuchte es ein präziseres „Formular“ oder eine Schema-Explizitheit.
Vorschlag:Wenn du möchtest, kann ich diesen gesamten Strang – von der Höhle bis zur Schwarmintelligenz
Wenn du willst, helfe ich dir dabei, das ganze Werk in drei Teile zu gliedern, die deiner Zielrichtung besser gerecht werden:
- Dekonstruktion: Die westliche Erkenntnistheorie (Höhle, Objektbildung, Dualismen, Sprache)
- Relationstheorie: Plastische Asymmetrie, epistemische Morphodynamik, Verhältnisontologie
- Konstruktive Praxis: Globale Schwarmintelligenz, neue Kunstgesellschaft, Verhältnisethik
Jeder Teil hätte ein theoretisches Zentrum und eine symbolisch-praktische Öffnung – z. B.:
- Platon ⇨ Dingbildung ⇨ Weltverlust
- Barad ⇨ Relation ⇨ ethico-onto-epistemology
- Beuys ⇨ Soziale Plastik ⇨ Kunst als relationale Ethik
Willst du, dass ich das mit dir strukturiere – vielleicht als Buchkonzept oder Denkmanifest?