4. Die Traditionslinie: Von Platon zu Descartes und Kant
Die Nachwirkung Platons prägt die europäische Geistesgeschichte in einem Maße, das kaum überschätzt werden kann.
Seine Verlagerung des Maßes in eine abstrakte, körperlose Ideenwelt hat ein Paradigma gesetzt, dem sich spätere Denker nicht entziehen konnten – auch wenn sie den Anspruch erhoben, Kritik oder Neubegründung zu leisten.
Gerade Descartes und Kant, zwei Schlüsselfiguren der Neuzeit, erscheinen auf den ersten Blick als Bruch mit der Tradition: Descartes mit seiner methodischen Radikalität, Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Beide bewegen sich innerhalb der platonischen Einseitigkeit und stabilisieren sie.
1. Descartes: Die Illusion der Klarheit
René Descartes gilt als Begründer des modernen Rationalismus. Mit seinem Discours de la méthode (1637) und den Meditationes de prima philosophia (1641) wollte er allen unsicheren Wissensformen eine stabile Grundlage entziehen und ein neues Fundament der Gewissheit schaffen. Seine berühmte Formel „cogito, ergo sum“ scheint ein radikaler Neuanfang zu sein: Gewissheit findet sich nicht mehr in den Dingen oder in der Tradition, sondern im Selbstbewusstsein des denkenden Subjekts.
Doch auch hier wiederholt sich der platonische Fehler. Das „klare und deutliche“ Wissen (clara et distincta perceptio) ist nichts anderes als eine neue Form von Symmetrie, eine geistige 50–50-Ordnung, die keinerlei Rest zulässt. Die Welt wird mathematisch kodiert, und Wahrheit wird identisch mit Evidenz und Berechenbarkeit. Das Körperliche, das Widerständige, das Ungleiche wird dem Geist untergeordnet. Descartes inszeniert sich als Kritiker der überlieferten Autoritäten, doch tatsächlich verschärft er die platonische Körperlosigkeit: Das Denken, nicht die Natur, wird zur Quelle der Wahrheit.
2. Kant: Die Selbstgesetzgebung der Vernunft
Im 18. Jahrhundert unternahm Immanuel Kant den Versuch, die metaphysischen Systeme zu überwinden und Philosophie auf eine kritische Grundlage zu stellen. Seine Kritik der reinen Vernunft (1781/1787) und die nachfolgenden Kritiken sollten zeigen, wie Erkenntnis möglich ist, ohne sich in dogmatischen Behauptungen zu verlieren. Kant betonte, dass die Vernunft sich selbst Grenzen setzen müsse, und formulierte mit dem Begriff der „kopernikanischen Wende“ einen Anspruch auf radikale Erneuerung.
Doch auch hier bleibt die Struktur platonisch. Kants „Vernunftautonomie“ bedeutet nichts anderes als eine Selbstlegitimation der Norm: Die Vernunft gibt sich selbst das Gesetz, und dieses Gesetz gilt universell. Freiheit erscheint nicht mehr als dynamisches Ringen mit Widerstand, sondern als Unterordnung unter eine ideale Ordnung. Gerechtigkeit, Moral und Erkenntnis basieren auf der Fiktion, dass ein transzendentaler Rahmen existiert, der allen Menschen gleichermaßen zugrunde liegt – eine gedankliche 50–50-Spiegelbildlichkeit.
Damit verlagert auch Kant, ähnlich wie Platon, das Maß aus der Welt der Widerstände in ein Reich der reinen Formen. Er tut so, als ob er eine fundamentale Kritik an Metaphysik und Dogmatismus übe, doch in Wirklichkeit reproduziert er deren Grundstruktur: den Glauben an eine vollkommene Ordnung, die die Wirklichkeit reguliert.
3. Kritik deiner Perspektive
Aus deiner Sicht zeigen Descartes und Kant ein gemeinsames Muster: Beide treten auf als große Kritiker, die den Anspruch erheben, alte Irrtümer zu überwinden und das Denken auf neue Grundlagen zu stellen. In Wahrheit aber sind sie nur Varianten desselben Zivilisationsfehlers. Denn sie bewegen sich innerhalb des platonischen Paradigmas der Symmetrie und Vollkommenheit.
Descartes ersetzt die platonische Ideenwelt durch die Klarheit des Denkens; Kant ersetzt sie durch die Autonomie der Vernunft. Aber beide ignorieren das Prinzip, das Sokrates andeutete: dass Wahrheit und Maß im Widerstand, in der Asymmetrie, im Ungleichgewicht bestehen. Stattdessen suchen sie Sicherheit, Geborgenheit, Perfektion – und genau darin verstärken sie die Einseitigkeit.
4. Konsequenz für die Moderne
Die Traditionslinie von Platon über Descartes bis Kant hat die Moderne vorbereitet. Wissenschaft, Politik und Ökonomie stehen bis heute in ihrem Bann. Wissenschaften definieren Wahrheit nach dem Modell der Symmetrie (50–50: Hypothese – Gegenhypothese, Experiment – Replikation). Politik orientiert sich an formalen Gleichheiten (Gesetze, Rechte, Normen), während Ökonomie in Zahlen und Bilanzen rechnet. Die Natur, die Asymmetrie, der Widerstand – all das bleibt systematisch ausgeblendet.
Die Philosophen dieser Linie tun also so, als ob sie Zivilisationskritiker wären – als ob sie durch Vernunft, Methode oder Kritik die Menschheit zu mehr Klarheit, Freiheit und Wahrheit führen würden. Tatsächlich jedoch perpetuieren sie eine Denkform, die das Lebendige entwirklicht und den Zivilisationsfehler der 50–50-Symmetrie weiter verankert.
📌 Quellen (Auswahl):
- Descartes, Meditationes de prima philosophia, in: AT VII (Adam/Tannery).
- Descartes, Discours de la méthode.
- Kant, Kritik der reinen Vernunft (A/B-Ausgabe).
- Kant, Kritik der praktischen Vernunft.
- Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
- Sekundär: Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung; Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft.