5. Die Moderne als Herrschaft der idiotes
Die antike Polis kannte den Begriff des idiotis für denjenigen, der sich dem Gemeinsinn entzog und im Privaten verharrte.
Privatheit bedeutete nicht Freiheit, sondern Beraubung der Gemeinschaft. Der idiotis war defizitär, weil er nicht am öffentlichen Leben teilnahm, sondern allein seinen eigenen Vorteil suchte. Das griechische Gemeinsinnverständnis war klar: Nur wer im Dialog, in der Polis, im Theater oder in der Volksversammlung mitwirkte, nahm am Menschsein teil.
In der Moderne hat sich dieses Verhältnis radikal umgekehrt. Heute ist der idiotis nicht mehr Randfigur, sondern Leitbild. Die Gesellschaft orientiert sich nicht am Gemeinsinn, sondern am Individuum als Ware. Die Selbstinszenierung, die Vermarktung, die Ökonomisierung des eigenen Lebens gelten als Normen, die Erfolg und Anerkennung versprechen. Wo in der Polis Handel noch die niedrigste Form der techne darstellte, weil er Betrug und Maßlosigkeit begünstigte, ist er heute die oberste gesellschaftliche Praxis: alles wird zum Geschäft, alles zum Markt.
Diese Umkehrung ist kein Zufall, sondern Folge der platonischen Traditionslinie. Wenn Wahrheit in der Ideenwelt (Platon), im reinen Denken (Descartes) oder in der Vernunftautonomie (Kant) verortet wird, dann wird das konkrete, körperliche, gemeinschaftliche Leben entwertet. Übrig bleibt ein Raum der Konstruktionen, Symbole und Normen – und genau dieser Raum ist es, den die Moderne absolut gesetzt hat. Wissenschaft, Politik, Ökonomie: alle operieren auf der Grundlage der platonischen 50–50-Symmetrie, nicht auf der Basis des sokratischen Widerstandsprinzips 51–49.
Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der alle Idiotes sind:
- Der Markt ersetzt die Polis.
- Medien und Konsum schaffen eine Symbolwelt der Ablenkung.
- Gemeinsinn, Solidarität, Tugenden – sie werden in den Hintergrund gedrängt.
- Was zählt, ist das „Mehr-Haben-Wollen“: Kapital, Macht, Kontrolle.
Diese Entwicklung ist zerstörerisch. Sie beraubt nicht nur den sozialen Zusammenhalt, sondern untergräbt auch die politischen und ökologischen Grundlagen. Demokratie degeneriert zur Kulisse, während Reichtum, Finanzmärkte und neue Formen des Despotismus die eigentliche Macht ausüben. Der Krieg des Gegeneinander – Individuum gegen Individuum, Konzern gegen Konzern, Staat gegen Staat – treibt die Maßlosigkeit ins Extreme.
Dabei herrscht die Illusion, der Mensch habe Kontrolle über Natur und Körper. Doch die Realität sieht anders aus: Physikalisch betrachtet ist der Mensch nichts anderes als eine molekulare Verknüpfung, abhängig von Stoffwechsel, Atmung und Verletzlichkeit. Diese einfache Tatsache wird jedoch verdrängt durch die „99 % Ablenkung“ im Markt, in den Medien und im Versprechen grenzenlosen Konsums. Der Mensch lebt in Konstrukten – in Symbolwelten, die Stabilität vorgaukeln, während die tatsächlichen Widerstände der Natur systematisch ignoriert werden.
Hier liegt die eigentliche Tragik: Die Moderne präsentiert sich als kritische Epoche – als Zeitalter der Aufklärung, der Wissenschaft, der politischen Freiheit. Doch tatsächlich hat sie den platonischen Fehler nur radikalisiert. Sie hat den idiotis ins Zentrum gestellt und die Asymmetrie des Lebens, das 51–49-Prinzip, verdrängt. Was einst die unterste Kategorie der techne war, bestimmt heute die gesamte Zivilisation. Handel, Berechnung, Profit – das sind die Normen, nach denen alles organisiert ist.
Aus deiner Perspektive bedeutet dies: Die Moderne ist keine Emanzipation, sondern die Vollendung der platonischen Einseitigkeit. Sie tut so, als ob sie Zivilisationskritik betreibe – Aufklärung gegen Aberglauben, Vernunft gegen Despotismus, Wissenschaft gegen Dogma –, in Wahrheit jedoch zerstört sie durch ihre Maßlosigkeit die Grundlagen des Überlebens. Der idiotis, der in der Antike als Gefahr galt, ist zum Normalzustand geworden.
📌 Quellen (Auswahl):
- Aristoteles, Politik I, 1257a–1258a (über den Handel als niedrigste techne).
- Platon, Politeia (zum Gemeinsinn und zur Ordnung des Staates).
- Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (Kulturindustrie, Selbstzerstörung der Vernunft).
- Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft (Überleben im Zynismus der Moderne).
- Byung-Chul Han, Psychopolitik (Ökonomisierung des Selbst).