9.6.2025
Kapitel 1: Vom Denken ins Tun – Einführung in eine plastische Weltbeziehung
Diese Theorie beginnt nicht mit einer abstrakten Idee, sondern mit einer Bewegung: der Bewegung der Hand, des Körpers, des Materials. Sie verlässt die klassische Logik der Repräsentation und setzt stattdessen auf eine direkte, plastische Weltbeziehung. Die Berührung wird zur zentralen Erkenntnismethode – nicht als Metapher, sondern als konkrete Handlung, die Spuren hinterlässt, Widerstand erfährt und Verantwortung erzeugt.
Im klassischen Erkenntnismodell beginnt der Zugang zur Welt oft mit dem Bild, dem Begriff, dem Symbol. Die Dinge erscheinen zunächst als Repräsentationen, die einer tieferen, hintergründigen Wahrheit verweisen. Doch diese Theorie der plastischen Weltbeziehung setzt früher an. Sie setzt dort an, wo der Körper die Welt berührt und durch diese Berührung Wissen generiert. Hier beginnt Erkenntnis nicht mit Vorstellung, sondern mit Kontakt: der Druck der Fußsohle auf feuchtem Boden, der Widerstand einer Wurzel, die Unebenheit der Fläche, die Temperatur des Gegenstandes. Die Welt antwortet nicht mit Bedeutung, sondern mit Eigenschaft.
Das Denken selbst wird in dieser Perspektive plastisch. Es verläuft nicht mehr linear von der Idee zur Ausführung, sondern oszilliert zwischen Widerstand und Anpassung. Jede plastische Handlung ist eine Form der Auseinandersetzung mit dem, was ist. Im Gegensatz zur Vorstellung eines autonomen Subjekts, das über die Welt verfügt, steht hier der Mensch als Teil eines Gefüges, das bereits wirkt, antwortet und gestaltet. Er ist weder Beherrscher noch passiver Beobachter, sondern Beteiligter eines offenen Prozesses, in dem jede Handlung Rückkopplung erzeugt.
Diese plastische Weltbeziehung macht das Verhältnis zwischen Mensch und Welt nicht abstrakter, sondern gegenwärtiger. Sie verlagert die Frage von der Erkenntnis zur Handlung: Was geschieht, wenn ich berühre? Was folgt daraus? Welche Spuren hinterlasse ich?
Die künstlerische Praxis, die sich daraus ergibt, folgt keiner vorgefertigten Form. Sie entwickelt sich aus dem Dialog zwischen Material, Ort, Handlung und Konsequenz. Die Form ist kein Ziel, sondern ein Resultat von Wechselwirkungen. In diesem Prozess werden nicht Bilder erzeugt, sondern Denkobjekte: materielle Konstellationen, in denen das Verhältnis zwischen Tun und Welt sichtbar wird.
Die plastische Weltbeziehung erfordert daher einen Perspektivwechsel. Sie fragt nicht, wie die Welt erscheint, sondern wie sie reagiert. Nicht, wie sie zu deuten ist, sondern wie man ihr begegnet. Sie setzt dort an, wo das Denken in Berührung tritt und das Begreifen wörtlich genommen wird: als Tätigkeit der Hände, als Erfahrungsbewegung des Körpers, als Antwort auf Material, Kraft und Widerstand.
Diese Einführung markiert den Ausgangspunkt für das, was folgt: eine systematische Darstellung der plastischen Weltbeziehung als künstlerische, ethische und erkenntnistheoretische Praxis.Kapitel 2: Berührung als Ursprung der Erkenntnis
Die klassische Erkenntnistheorie trennt häufig zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Wahrnehmung und Welt, zwischen Geist und Materie. In dieser plastischen Theorie wird diese Trennung aufgehoben: Die Berührung ist der Ursprung der Erkenntnis, weil sie das Subjekt unmittelbar mit dem Objekt verbindet. Der denkende Mensch existiert nicht als von der Welt Getrennter, sondern als Teilnehmender an ihren Prozessen. Erkenntnis entsteht nicht aus dem bloßen Schauen, sondern im Widerstand, im Tasten, im Spüren.
Berührung ist dabei nicht nur ein physikalisches Ereignis, sondern ein epistemisches Verhältnis. Wenn der Fuß auf die Wiese tritt, entsteht nicht lediglich ein Kontaktpunkt, sondern ein Dialog: Der Untergrund antwortet durch Festigkeit, Feuchtigkeit, Temperatur und Nachgiebigkeit. Dieses Wechselspiel von Eigenbewegung und Widerstand ist die elementare Form jeder Weltwahrnehmung. Schon bevor Begriffe gebildet werden, entsteht Bedeutung durch diese direkte, körperlich vermittelte Rückmeldung.
Der Körper wird in dieser Perspektive nicht zum nachgeordneten Instrument des Geistes, sondern zum primären Ort des Weltbezugs. Die phänomenologische Einsicht, dass der Leib „Mittel des Zur-Welt-Seins“ ist, findet hier eine radikale Fortführung: Berührung ist keine sekundäre Erfahrung, sondern die erste Schnittstelle zwischen Mensch und Welt. Sie bildet den Ausgangspunkt, auf dem alle weiteren Erkenntnisformen aufbauen.
In dieser Begegnung verschiebt sich auch die Rolle des Subjekts: Es agiert nicht als souveräner Erkenner, sondern als Beteiligter, der sich dem Widerstand der Welt aussetzt. Die Berührung zwingt zur Auseinandersetzung mit dem Gegebenen. Jeder Griff, jeder Schritt, jede Geste enthält das Risiko der Verletzung, des Scheiterns, des unerwarteten Widerstandes. Diese Verletzlichkeit ist keine Schwäche, sondern die Bedingung der Erkenntnis: Nur was Widerstand leisten kann, wird wirklich erfahren.
Damit wird die Berührung zur Quelle einer besonderen Form von Wahrheit: einer Wahrheit des Verhältnisses. Wahrheit ist hier nicht die Übereinstimmung eines Gedankens mit einer vorgegebenen Realität, sondern das Gelingen einer Beziehung zwischen Handelndem und Welt. Erkenntnis wird nicht durch Repräsentation erzeugt, sondern durch Resonanz. Die Wahrheit der Berührung ist keine absolute, sondern eine situative, prozessuale, sich fortwährend erneuernde.
In der künstlerischen Praxis wird diese Erkenntnisform konkret erfahrbar. Die Arbeit am Material – ob Holz, Gips, Metall, Wasser oder Erde – zwingt den Künstler, sich auf die Eigenschaften des Gegenübers einzulassen. Das Material antwortet: Es weicht aus, bricht, verhärtet, fließt. Die Form entsteht nicht durch bloße Gestaltungskraft, sondern durch das Zusammenspiel von Intention und Reaktion. Der künstlerische Prozess ist ein Rückkopplungssystem, in dem jede Entscheidung sofort Konsequenzen hat.
So wird die Berührung zur ethischen Grundfigur der plastischen Weltbeziehung. Denn jede Handlung verändert ihr Gegenüber. Verantwortung erwächst hier nicht aus abstrakten Normen, sondern aus der Unmittelbarkeit des Kontakts. Wer berührt, wird Teil eines Prozesses, der nicht mehr vollständig kontrollierbar ist. Verantwortung bedeutet in dieser Perspektive: die Konsequenzen der eigenen Berührung mitzutragen.
Die Erkenntnis, die aus der Berührung hervorgeht, ist daher keine distanzierte Theorie, sondern ein erfahrungsgebundener Prozess des Lernens im Tun. Es ist ein tastendes Denken, das sich nicht auf sichere Begriffe stützt, sondern im Verhältnis zu Material, Ort und Handlung fortwährend neu formiert.Kapitel 3: Von der Welt ohne den Menschen zur Welt der Handlung
Bevor der Mensch in die Welt tritt, existiert eine Ordnung, die keiner Intention entspringt. Die Welt organisiert sich durch Kräfte: Strömungen formen Flussläufe, Sedimente lagern sich an, Wind modelliert Dünen, Temperaturschwankungen dehnen und kontrahieren Materialien. Diese Prozesse vollziehen sich ohne Ziel, ohne Bewusstsein, ohne Bedeutung im menschlichen Sinn. Formen entstehen, weil Kräfte wirken – nicht, weil jemand sie will.
In dieser ursprünglichen Welt ist Bewegung selbst das Prinzip der Gestaltung. Ein Spinnennetz spannt sich zwischen zwei Halmen, nicht um betrachtet zu werden, sondern um Beute zu sichern. Die Tangstrukturen an der Küste legen sich in Mustern nieder, weil Wellen und Strömungen sie führen. Der Fluss bildet Mäander, weil das Wasser seinen Weg nach minimalem Widerstand sucht. Diese Welt ist weder starr noch chaotisch. Sie besitzt eine eigene innere Logik der Rückkopplung, der Stabilisierung und der Veränderung.
Der Mensch tritt in diese Welt als Teilhaber ein. Zunächst sind seine Bewegungen tastend, prüfend, suchend. Der barfüßige Schritt über die Wiese wird zur ersten konkreten Handlung. Jeder Schritt verändert den Untergrund, drückt Halme nieder, hinterlässt Spuren. Die Berührung wird zur ersten Form des Eingriffs: nicht dominierend, aber bereits wirksam. Der Körper reagiert auf das, was ihm begegnet, und wird selbst Teil des Prozesses, den er berührt.
Doch bald wird aus der Berührung eine Ordnung. Der Mensch breitet eine Decke auf der Wiese aus – eine kleine geometrische Setzung im offenen Gelände. Hier beginnt die Transformation der Welt durch Setzung von Grenzen, durch funktionale Räume, durch Entnahmen. Das Picknick wird zum ersten Ritual der Aneignung: Was die Natur hervorgebracht hat, wird gesammelt, angerichtet, konsumiert. Das Erntedankfest als Geste des Dankes bleibt ambivalent, weil es bereits auf einer Entnahme basiert.
In dieser Bewegung von der tastenden Berührung zur funktionalen Aneignung offenbart sich der Übergang von der Welt der Kräfte zur Welt der Handlung. Der Mensch beginnt, nicht nur teilzuhaben, sondern systematisch zu gestalten, zu regulieren, zu entnehmen und Spuren zu hinterlassen. Doch mit der Entnahme kommt auch das Vergessen. Nach dem Mahl bleibt Müll zurück. Der Mensch entfernt sich – und lässt zurück, was er nicht mehr braucht. Was ursprünglich Begegnung war, wird zum unachtsamen Zugriff.
Diese Dynamik der Wiederholung bildet die Grundlage einer plastischen Anthropologie: Der Mensch ist immer sowohl Beteiligter als auch Störer. Die Welt reagiert auf sein Tun, speichert die Eingriffe, formt sich weiter. Diese Wechselwirkung zwischen Eingriff und Rückwirkung prägt das Verhältnis von Kultur und Natur bis heute. Die plastische Kunstpraxis macht diese Prozesse sichtbar, ohne sie zu idealisieren. Sie zeigt den Menschen nicht als Beherrscher, sondern als Teil eines komplexen Systems, dessen Stabilität von seiner Fähigkeit zur verantwortlichen Berührung abhängt.
Die Welt, die der Mensch betritt, ist bereits voller Bewegung. Was er ihr entnimmt, verändert ihr Gleichgewicht. Was er zurücklässt, bleibt nicht folgenlos. Der Schritt von der bloßen Berührung zur Handlung ist der Schritt von der Passivität in die Verantwortung.Kapitel 4: Die plastische Handlung – Vom Objekt zur Beziehung
Die klassische Kunstauffassung definiert das Werk häufig als abgeschlossenes Objekt: ein Produkt künstlerischer Absicht, das Bedeutung repräsentiert und als symbolisches Zeichen gelesen werden kann. In dieser Tradition stehen sowohl die platonische Unterscheidung zwischen Idee und Abbild als auch die ikonische Kritik bei Magritte und die theatralische Simulation bei Brecht. In allen diesen Modellen bleibt das Kunstwerk letztlich ein Bild, das für etwas anderes steht.
Die plastische Handlung, wie sie hier beschrieben wird, entzieht sich dieser Logik der Repräsentation. Sie erzeugt keine Zeichen, sondern Beziehungen. Was entsteht, ist kein Bild, sondern ein Zustand, der durch Berührung, Widerstand, Material und Handlung realisiert wird. Das Werk ist nicht abgeschlossen, sondern eingebettet in einen Prozess. Es wird zum Denkobjekt, weil es seine eigene Genese in sich trägt und durch seine Eigenschaften Rückkopplung auf den Betrachter, den Raum und die Zeit erzeugt.
In dieser Form des Arbeitens wird das Material selbst zum aktiven Partner der Erkenntnis. Gips, Erde, Wasser, Salz, Gold, Eisen — sie bringen eigene Widerstände, Eigenschaften und Grenzbedingungen mit, die den Handlungsspielraum mitbestimmen. Die Form entsteht nicht durch die Durchsetzung eines Willens, sondern durch die Verhandlung mit dem Material. Jeder Eingriff wird geprüft durch das, was das Material zurückmeldet. Diese plastische Erkenntnisform ist kein abstrakter Entwurf, sondern ein dialogisches Geschehen.
Der Künstler steht nicht außerhalb des Prozesses, sondern innerhalb eines Rückkopplungssystems. Seine Handlungen verändern das Material, das Material verändert seine Handlungen. Jeder Schritt verlangt ein Nachjustieren. Diese wechselseitige Abstimmung gleicht dem, was in der Systemtheorie als offenes Regelkreissystem beschrieben wird: eine ständige Aushandlung von Impuls und Antwort, von Eingriff und Ausgleich. Es ist ein Fluss aus Bewegung und Gegenbewegung, in dem die endgültige Form immer ein vorläufiger Zustand bleibt.
Entscheidend ist dabei, dass diese Prozesse keine Simulation darstellen, sondern reale Konsequenzen haben. Ein Kratzer im Gips bleibt. Ein vergoldeter Spaten verliert seine Funktion. Ein in Goldwasser getauchtes Brot wird ungenießbar. Die plastische Handlung operiert nicht im Raum des Als-ob, sondern im Raum der tatsächlichen Veränderung. Die Objekte, die daraus entstehen, sind keine Darstellungen von Wirklichkeit, sondern Eingriffe in sie. Dadurch wird das künstlerische Handeln selbst zur ethischen Geste: Jede Entscheidung trägt Verantwortung für die Veränderung, die sie erzeugt.
So verschiebt sich der Status des Kunstwerks grundlegend. Es wird nicht mehr als abgeschlossener Gegenstand verstanden, sondern als plastische Beziehungseinheit. Nicht als Objekt des Betrachtens, sondern als Ort des Antwortens. Der Künstler wird zum Beteiligten, der Betrachter zum Mitspieler. Die Grenze zwischen Subjekt und Objekt wird durchlässig: In der Berührung begegnet sich der Mensch immer auch selbst.
Die plastische Handlung ist damit weder rein ästhetisch, noch bloß funktional. Sie ist epistemisch, ethisch und ökologisch zugleich. Sie ermöglicht nicht nur eine neue Form von Wissen, sondern zwingt auch zur Reflexion darüber, wie wir in dieser Welt handeln und welche Spuren wir hinterlassen. Jedes Werk bleibt offen – als Ort der Begegnung zwischen Mensch, Material und Welt.Kapitel 5: Denkobjekte und die Ethik der Rückkopplung
Im Zentrum der plastischen Weltbeziehung steht der Begriff des Denkobjekts. Es handelt sich dabei weder um ein Abbild noch um ein Zeichen, sondern um eine physische Konfiguration, die sowohl Erkenntnis als auch Handlung verkörpert. Das Denkobjekt entsteht durch ein Wechselspiel von Material, Geste und Widerstand. Es ist Ergebnis und zugleich fortlaufender Prozess, in dem Weltverhältnisse konkretisiert und zur Reflexion freigegeben werden. Es verkörpert ein Denken, das nicht im Kopf verbleibt, sondern sich im Raum materialisiert.
Während klassische Erkenntnistheorie Wissen oft als abstrahierten, begrifflich fixierten Zustand versteht, wird im Denkobjekt Wissen leiblich erzeugt. Berührung, Tasten, Fühlen und Machen sind nicht vorbereitende oder illustrierende Schritte des Denkens, sondern dessen eigentliche Vollzugsformen. Wissen ist hier nicht Repräsentation, sondern Formung. Die Hand erkennt nicht nachträglich – sie erzeugt Erkenntnis im Moment des Handelns.
Dabei unterliegt das Denkobjekt einer spezifischen Ethik der Rückkopplung. Jeder Eingriff in das Material verändert die Bedingungen, unter denen weitergearbeitet werden kann. Das Material antwortet. Ein Schnitt im Gips verändert die Statik; eine Schale mit Goldwasser verändert die Essbarkeit von Nahrung; ein in Gold vergoldetes Werkzeug verliert seine praktische Funktion. Diese Antworten des Materials sind keine symbolischen Reaktionen, sondern physische Tatsachen. Dadurch entstehen Verantwortungsverhältnisse: Der Künstler kann seine Eingriffe nicht rückgängig machen, sondern nur weiter darauf antworten.
Die Ethik der plastischen Handlung ist somit keine abstrakte Norm, sondern konkret eingebettet in den jeweiligen Handlungsvollzug. Verantwortung bedeutet hier: auf die Konsequenzen der eigenen Eingriffe reagieren, den Fortgang des Prozesses in die eigene Handlung einbeziehen. Rückkopplung wird so zur moralischen Dimension des plastischen Handelns. Nicht was intendiert war, sondern was faktisch hervorgerufen wird, ist der Maßstab. Jede plastische Entscheidung ist somit ein ethischer Knotenpunkt im Verhältnis von Handlung und Welt.
Auch der Betrachter wird in diese Rückkopplungsstruktur einbezogen. Denkobjekte fordern nicht bloß Betrachtung, sondern laden zur Teilnahme ein: durch Annäherung, Umschreiten, Ertasten, durch das Nachvollziehen der plastischen Dynamik. Indem der Betrachter in die Beziehung eintritt, wird er selbst Teil des Regelkreises, in dem sich Wahrnehmung und Weltverhältnis wechselseitig prägen. Damit wird die Kunst nicht zur Bühne für Interpretationen, sondern zur Schule für Verantwortung.
Im Denkobjekt kulminiert schließlich die grundsätzliche Bewegung der plastischen Weltauffassung: Es löst sich von der Vorstellung, dass Kunst auf Bedeutung abzielt, und rückt stattdessen die Handlung selbst ins Zentrum. Das Denken wird durch das Tun verkörpert, das Tun durch das Material geformt, das Material durch die Rückkopplung ethisch gerahmt. So wird aus der plastischen Handlung keine bloße Formproduktion, sondern ein Ort weltbezogener Selbstprüfung.Kapitel 6: Die vier Schüsseln – plastische Weltmodelle und systemische Spannungsfelder
Die vier Schüsseln stellen eine zentrale Verdichtung der plastischen Weltbeziehung dar. In ihnen werden komplexe Beziehungsstrukturen zwischen Natur, Reinigung, Veredelung und Fruchtbarkeit nicht repräsentiert, sondern plastisch erfahrbar gemacht. Jede Schüssel ist dabei keine bloße Metapher, sondern eine handlungsbezogene Versuchsanordnung, in der materielle Eigenschaften und ethische Entscheidungen miteinander verschränkt sind.
Die grüne Schüssel repräsentiert die Erde als lebendigen, atmenden Organismus. Sie steht für das planetare Gleichgewicht, für die Grundlage von Leben, für die elementaren physikalischen und ökologischen Zyklen. Doch die grüne Schüssel ist kein romantisiertes Bild von Natur, sondern verweist auf das prekäre Spannungsverhältnis, in dem Stabilität und Verletzbarkeit untrennbar verbunden sind. Der Mensch tritt hier nicht als Besitzer, sondern als Teilhaber auf, dessen Handlungen das ökologische Gefüge immer mit beeinflussen.
Die weiße Schüssel verkörpert das Prinzip der Reinigung. Das verwendete Salz steht für die ambivalente Funktion von Klärung und Konservierung. Reinigung ist hier kein neutraler Vorgang, sondern ein Eingriff in den Stoffwechsel der Welt. Das Salz konserviert, schützt, aber entzieht zugleich Vitalität, trocknet aus, fixiert. Die weiße Schüssel thematisiert damit die Spannung zwischen Schutz und Entzug, zwischen Erhaltung und Erstarrung.
Die goldene Schüssel führt diese Ambivalenz in ein radikales Spannungsfeld. Sie steht für die Idee der Erhöhung, der Veredelung, der scheinbaren Perfektion. Doch was in Goldwasser getaucht wird, verliert seine Lebendigkeit. Nahrung wird ungenießbar, Berührbarkeit geht verloren. Die goldene Schüssel zeigt die Gefahr der Überhöhung: Wenn die Welt zum idealisierten Objekt wird, verliert sie ihre Funktion als Lebensraum. Hier spiegelt sich der Mythos des Midas als plastische Warnung: Die Geste der absoluten Veredelung mündet in die Unbrauchbarkeit des Daseins.
Die violette Schüssel schließlich repräsentiert die Fruchtbarkeit, die Möglichkeit von Zukunft, von Wachstum und Erneuerung. Violett steht für das transformative Potential der Erde – nicht als garantierte Gabe, sondern als kontingente Möglichkeit, die immer von den vorausgehenden Handlungen abhängt. Fruchtbarkeit ist keine Ressource, sondern ein fragile Balance zwischen Geben und Nehmen.
Diese vier Schüsseln bilden gemeinsam kein statisches System, sondern ein dynamisches Spannungsfeld, in dem menschliches Handeln stets neue Zustände erzeugt. Die Interaktionen zwischen den Schüsseln lassen sich als systemische Kipppunkte begreifen: Jede Handlung in einer Schüssel verschiebt die Bedingungen für die anderen. Reinigung, Erhöhung, Nutzung und Ernte sind nicht voneinander zu trennen, sondern miteinander rückgekoppelt.
Im Zentrum dieser Anordnung steht der Teller mit dem Besteck – als Einladung, als Ort der Entscheidung. Hier wird die plastische Ethik konkret: Wo lege ich das Brot ab? Was tauche ich ein? Womit gehe ich in Beziehung? Die goldene Versuchung steht daneben: ein vergoldeter Teller, unberührbar und leer. Er verweist auf jene Denkbewegung, in der die Welt zur perfekten Form wird – aber als Lebensgrundlage zerstört ist.
Die plastische Arbeit mit den vier Schüsseln entwirft damit ein Weltmodell, das nicht auf Abbild oder Illustration zielt, sondern auf Teilnahme. Sie zwingt zur Entscheidung, nicht zur Interpretation. Durch die konkrete Handlung wird das abstrakte Verhältnis zwischen Mensch und Welt auf eine taktil-praktische Ebene zurückgeführt. Die vier Schüsseln sind keine Kunstobjekte im klassischen Sinne, sondern ethische Geräte: Sie zeigen in der Handlung, wie Weltverhältnisse immer neu erzeugt, stabilisiert oder gefährdet werden.Kapitel 7: Der Flusstisch – Geformte Landschaft als plastischer Erntedank
Der Flusstisch stellt eine exemplarische Umsetzung der plastischen Weltbeziehung dar. Er verbindet Naturbeobachtung, plastische Formfindung und kultische Handlung zu einem konkreten Erfahrungsraum, in dem der Zusammenhang zwischen Berührung, Weltgestaltung und Dankbarkeit sichtbar und greifbar wird. Diese Arbeit setzt die zuvor entwickelten Denkfiguren nicht nur theoretisch fort, sondern konkretisiert sie als Handlung im Material.
Der Ausgangspunkt des Flusstisches liegt in einer realen Landschaftsbeobachtung. Auf einer geneigten Gartenfläche wird Wasser gezielt ausgeschüttet. Das herabfließende Wasser bildet durch Strömung und Widerstand ein temporäres Flussbett: an manchen Stellen lagert es Erde an, an anderen trägt es Material ab. Es entsteht ein selbstorganisiertes Strömungsbild, das keine geplante Komposition ist, sondern durch die Kräfte des Gefälles, der Viskosität, des Materials und des Zufalls bestimmt wird. Die Dynamik des Wassers generiert eine Form, die nicht entworfen, sondern entstanden ist — eine plastische Gleichzeitigkeit von Ordnung und Offenheit.
Diese temporäre Struktur wird durch plastisches Handeln konserviert. In die entstandene Flussform wird Gips gegossen, der nach Aushärtung die negative Landschaft aufnimmt. Eisenstangen stabilisieren die Form, während die ursprünglich eingelagerte Erde anschließend wieder entfernt wird. Was zurückbleibt, ist das Abbild einer natürlichen Bewegungsstruktur, jedoch nicht als glatte Kopie, sondern als tastbare, widerständige Oberfläche. Das Material trägt die Spur des Prozesses in sich.
Der so entstandene Flusstisch dient als Erntedankaltar. Auf seinen Vertiefungen und Verläufen werden Früchte des Gartens ausgelegt: Obst, Gemüse, Samen — die konkreten Erträge der Natur. Doch der Tisch ist mehr als nur Träger der Ernte: Er ist Teil des Prozesses, durch den diese Ernte überhaupt möglich wird. Die geführte Landschaft wird nicht idealisiert, sondern als dynamisches System dargestellt, das dem menschlichen Handeln vorausgeht und es zugleich bedingt.
Der Erntedank erhält in dieser plastischen Form seine eigentliche Bedeutung zurück: nicht als symbolisches Ritual, sondern als konkrete Rückbindung an die Gegebenheit der Welt. Dankbarkeit entsteht hier nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Einsicht in die Abhängigkeit: Die Nahrung, die entnommen wird, bleibt Resultat eines Systems, das wir nur bedingt kontrollieren, aber jederzeit stören können.
Die Berührung des Flusstisches bleibt dabei ein zentrales Element der Erkenntnis. Die Hände können den Flussverlauf nachverfolgen, seine Verzweigungen, seine Sedimentierungen ertasten. Diese Berührung macht den Entstehungsprozess der Landschaft nicht nur sichtbar, sondern auch physisch nachvollziehbar. Erkenntnis geschieht hier nicht durch Anschauen allein, sondern durch eine aktive Bewegung im Material. In der plastischen Rückverfolgung des Flusses verdichtet sich das Denken zu einer leiblichen Weltbeziehung.
Der Flusstisch ist somit kein dekorativer Altar, sondern ein plastischer Denkraum, der die Spannung zwischen Ernte und Verantwortung verkörpert. Was als geformte Gipsstruktur sichtbar wird, ist zugleich ein Weltmodell: Es zeigt, dass die Bedingungen des Erntens immer Resultate eines Prozesses sind, in dem Naturkräfte und menschliches Handeln miteinander verwoben bleiben.
Im Kontext der bisherigen plastischen Ethik markiert der Flusstisch den Moment, an dem Berührung, Handlung und Dankbarkeit nicht länger getrennte Sphären sind. Er führt die theoretische Reflexion der Weltformel 51:49 in eine gelebte, berührbare Praxis über: ein minimaler Eingriff in die Landschaft erzeugt eine Form, die zugleich Zeugnis des Handelns und Einladung zur Teilnahme bleibt.Kapitel 8: Die Weltformel 51:49 – Minimaler Ungleichgewichtspunkt für dynamische Systeme
In der plastischen Weltbeziehung, wie sie hier entwickelt wird, spielt das Prinzip des minimalen Ungleichgewichts eine zentrale epistemische, ästhetische und ethische Rolle. Es ist keine Regel, sondern ein Maß: die Weltformel 51:49. Diese Verhältniszahl beschreibt den Zustand, in dem Systeme weder in statischer Balance erstarren noch in destruktive Instabilität kippen. Sie markiert den schmalen Bereich funktionaler Asymmetrie, der Bewegung, Anpassung und Leben ermöglicht.
Physikalisch betrachtet, benötigen Strömungsprozesse, Kreisläufe und Regelkreise stets Differenzen, um Energieflüsse aufrechtzuerhalten. Ein vollkommenes Gleichgewicht — 50:50 — bedeutet Stagnation. Erst ein minimaler Gradient erzeugt Fluss. In biologischen Systemen, in ökologischen Gleichgewichten und auch in sozialen Prozessen bildet das leichte Übergewicht einer Seite die Grundlage von Dynamik und Entwicklung.
Übertragen auf die plastische Kunstpraxis bedeutet dies: Das Verhältnis von Kontrolle und Offenheit, von Planung und Prozess, von Eingriff und Eigenlogik des Materials darf nie vollständig aufgelöst werden. Die künstlerische Handlung muss sich innerhalb eines schmalen Korridors bewegen, in dem sie zwar lenkt, aber nicht dominiert; in dem sie eingreift, aber nicht zerstört; in dem sie zulässt, dass das Material, die Form und die Welt eigene Rückmeldungen liefern.
Auch ethisch verweist das Maß 51:49 auf die Grundhaltung dieser Kunst: Der Mensch darf gestalten, aber er bleibt Teil eines Gefüges, das sich seinem vollen Zugriff entzieht. In dieser minimalen Verschiebung liegt die Verantwortung: Der Spielraum des Handelns ist nicht unbegrenzt, aber auch nicht erstarrt. Es bleibt ein Raum des Tätigseins, in dem Berührung Konsequenz hat, aber Konsequenz nicht automatisch in Zerstörung umschlägt.
Erkenntnistheoretisch drückt die Weltformel 51:49 die Einsicht aus, dass Wissen nicht als vollständige Repräsentation existiert. Erkenntnis bleibt immer partiell, situativ, tastend. Zwischen dem, was der Handelnde bereits versteht (51%) und dem, was sich dem Begreifen entzieht (49%), entsteht Bewegung. Diese Spannung hält die Suche offen und bewahrt vor ideologischer Erstarrung.
Auch formal-ästhetisch ist das 51:49-Prinzip wirksam: Ob in der labilen Komposition eines plastischen Objekts, in der Instabilität einer hängenden Konstruktion, im fragilen Gleichgewicht einer Geste — stets signalisiert diese kleine Asymmetrie das Lebendige. Perfekte Symmetrie wirkt tot, vollständige Dominanz zerstört die Kommunikation mit dem Material. In der plastischen Handlung zeigt sich die Weltformel dort, wo das Werk zwischen Halt und Kippen oszilliert, zwischen Kontrolle und Loslassen vibriert.
Im erweiterten Sinne kann das 51:49-Prinzip auch als Weltethos verstanden werden: Der Mensch darf nehmen, aber er muss geben. Er darf prägen, aber er muss antworten. Er darf berühren, aber er muss Spuren zulassen. Die Welt trägt uns — solange wir ihr minimal mehr Raum lassen, als wir beanspruchen.
In der Summe eröffnet die Weltformel 51:49 einen präzisen Denkrahmen für die plastische Weltbeziehung: Sie ist Maß der Handlung, Maß der Verantwortung, Maß der Erkenntnis und Maß der Form. Sie hält die Kunst im Dialog mit der Welt offen — nicht als Repräsentation, sondern als andauernde Berührungsbewegung im Zwischenraum von Tun und Lassen.Kapitel 9: Plastische Ethik der Berührung – Verantwortung im Prozess
Die plastische Weltbeziehung, wie sie sich hier entfaltet, begründet eine Ethik, die sich nicht aus abstrakten Normen, sondern unmittelbar aus der Handlung selbst ergibt. Berührung, so verstanden, ist nie neutral. Jede Berührung greift in die Welt ein, verändert Material, verschiebt Gleichgewichte, setzt Prozesse in Gang. Verantwortung erwächst daraus nicht als nachträgliches Reflektieren, sondern ist bereits in der Geste selbst angelegt. Die plastische Handlung ist Verantwortung in Vollzug.
Im Unterschied zu klassischen Ethikmodellen, die den Menschen als souveränes Subjekt mit freiem Willen betrachten, versteht die plastische Ethik den Handelnden als Teil eines komplexen Gefüges von Rückwirkungen. Handlung bedeutet hier nicht bloß Tun, sondern auch Zulassen, Antworten, Hinhören auf das, was die Welt als Reaktion zurückmeldet. Die Verantwortung des plastisch Arbeitenden besteht darin, die Dynamik des Prozesses ernst zu nehmen, seine Wirkungen nicht nur auf das Objekt, sondern auf das gesamte System — Material, Raum, Umwelt, Betrachter — mitzubedenken.
Die Ethik der plastischen Berührung ist keine Moral der Kontrolle, sondern eine Ethik der Aufmerksamkeit. Nicht das Maß der Absicht, sondern das Maß der Resonanz entscheidet. Wer mit Gips, Erde, Wasser, Eisen oder Salz arbeitet, erlebt unmittelbar, wie jedes Eingreifen neue Spannungen schafft. Die Materie antwortet: sie bricht, fließt, erstarrt, widersteht. In diesem Antwortgeschehen formt sich die eigentliche Verantwortungsdimension: nicht als souveräne Steuerung, sondern als geteilte Handlung im Rückkopplungsprozess.
Der Begriff der Rückkopplung wird hier zum zentralen ethischen Prinzip. Jede plastische Geste löst Wirkungen aus, die wiederum den Handelnden beeinflussen. Das Werk entsteht nicht aus Durchsetzung, sondern aus Regulierung im Widerstand. Die Verantwortung liegt darin, die Rückwirkungen nicht zu übersehen, sondern sie zum Bestandteil des Gestaltungsprozesses zu machen. Verantwortung wird hier performativ: Sie geschieht nicht vor oder nach der Tat, sondern innerhalb der Handlung selbst.
Damit verschiebt sich auch der Begriff der Schuld. Nicht der Fehler, nicht das Scheitern sind das ethische Problem, sondern das Nicht-Hören auf das, was die Welt zurückmeldet. Unverantwortlich wird die Handlung dann, wenn sie aufhört, die Reaktion des Materials, der Umwelt oder des sozialen Raumes wahrzunehmen. Wer plastisch arbeitet, ist immer Mitspieler eines Systems, das ihn selbst mitformt.
Auch in der Beziehung zur Natur wird diese Ethik konkret. Die Erde ist hier kein passives Objekt, kein Rohstofflager, sondern ein aktives Gegenüber. Wenn der Flusstisch als plastisches Objekt aus einer realen Wasserbewegung hervorgegangen ist, dann trägt er bereits eine Geschichte der Kräfte in sich. Obst und Gemüse, die auf diesem Tisch zur Erntezeit gelegt werden, erinnern an die Gebundenheit allen Lebens an materielle Prozesse: Keimung, Wachstum, Ernte, Vergehen. Die Geste des Legens, des Berührens dieser Objekte ist ein verkörperter Dank, aber auch ein Innehalten vor dem, was der Mensch nimmt.
Im Kontext der vier Schüsseln — grün (Erde), weiß (Reinigung), gold (Veredelung), violett (Fruchtbarkeit) — zeigt sich, wie leicht sich Verantwortung in Entfremdung verkehren kann: Wenn Reinigung zur Entwirklichung wird, wenn Veredelung zur Unbrauchbarkeit führt, wenn Nahrung zur Ware degeneriert, wenn Fruchtbarkeit instrumentalisiert wird. Die plastische Ethik der Berührung verlangt stattdessen, jedes Eingreifen auf sein Verhältnis zum Ganzen zu prüfen.
Im Sinne der Weltformel 51:49 bedeutet das: Die Handlung muss stets einen kleinen Raum für das Unkontrollierbare lassen. Absolute Kontrolle zerstört die Rückkopplung, absolute Hingabe führt zur Ohnmacht. Nur im minimalen Ungleichgewicht zwischen Tun und Lassen, zwischen Gestalten und Geschehenlassen bleibt das Verhältnis lebendig. Die Ethik der plastischen Berührung besteht darin, diesen Zwischenraum wach und aufmerksam zu bewohnen.
Die plastische Ethik ist also kein nachträgliches Urteil, sondern eine Haltung des Denkens im Tun. Sie nimmt ernst, dass jedes Berühren Spuren hinterlässt — und dass diese Spuren wiederum den Handelnden verändern. In diesem Kreislauf der Rückwirkungen entsteht eine Ethik der Gegenwart: aufmerksam, verletzlich, verantwortlich.Kapitel 10: Die Denkobjekte – Plastische Formen als verkörpertes Wissen
Im Zentrum dieser plastischen Weltauffassung stehen die Denkobjekte. Sie sind keine Repräsentationen von Ideen, keine Illustrationen eines inneren Sinns, sondern konkret gewordene Schnittstellen zwischen Material, Berührung, Prozess und Erkenntnis. Das Denkobjekt entsteht nicht aus Konzept, sondern aus Handlung. Es ist nicht Symbolträger, sondern Wirkungsträger.
Denkobjekte entstehen durch das plastische Arbeiten selbst — durch Gießen, Schneiden, Legen, Schichten, Stabilisieren, Freilegen. In dieser Tätigkeit verschränken sich Materialeigenschaft, Kraftwirkung, Werkzeugführung und Widerstand miteinander. Der Gipsfluss, der durch das Ausgießen einer realen Wasserbewegung im Garten entstand, ist ein exemplarisches Denkobjekt: Er enthält die Information des ursprünglichen Strömungsverlaufs, aber er ist nicht bloß ein Abbild; er ist ein materielles Archiv von Kraft und Prozess. Indem er später zum Erntetisch wird, verschiebt sich sein Status: Vom Prozessrest zum sozialen Ort der Begegnung zwischen Nahrung, Landschaft und Handlung.
Denkobjekte sind keine statischen Werke. Sie sind Prozesse, die anhalten. In ihnen lagert sich Handlung als Spur ab, aber die Lesbarkeit dieser Spur bleibt offen. Der Betrachter wird eingeladen, die Objekte nicht nur visuell, sondern taktil und körperlich zu erkunden: Linien mit den Fingern nachziehen, Vertiefungen ertasten, Oberflächenwiderstände spüren. Erkenntnis geschieht hier nicht durch Deutung, sondern durch Kontakt.
Im Unterschied zur klassischen Skulptur, die oft auf Formvollendung zielt, bleiben Denkobjekte offen für Prozesshaftigkeit. Ihre Form entsteht nicht durch ein vorausgesetztes Ideal, sondern als Resultat eines Kräftefeldes. Sie tragen innerhalb ihrer Struktur ein Wissen, das weder theoretisch noch symbolisch ist, sondern plastisch gespeichert: Wie reagiert Material auf Druck? Wie fließt Wasser bei einem bestimmten Neigungswinkel? Wie lagern sich Sedimente bei wechselnder Geschwindigkeit ab? Dieses Wissen ist verkörpertes Wissen — nicht als Formel, sondern als Form.
Die plastische Arbeit mit Denkobjekten ist damit eine Form von epistemischer Praxis. Sie stellt nicht die Frage: Was bedeutet das? Sondern: Wie ist es entstanden? Erkenntnis wird hier nicht deduziert, sondern berührt. Die Wahrheit des Denkobjekts liegt in seiner Prozessgeschichte, nicht in seiner Interpretation. Und doch bleibt jedes Denkobjekt relational: Es existiert nicht unabhängig vom Berührenden, Betrachtenden, Benutzenden. Erst im Kontakt entfaltet es seine Erkenntnisdimension.
Denkobjekte erweitern auch den Begriff der Dokumentation. Sie sind nicht bloß Resultate, sondern zugleich Protokolle des Handelns. So wird etwa der vergoldete Spaten nicht zu einer Ikone des Werts, sondern zu einem Objekt, das die Handlung der Berührung selbst reflektiert: Wo setzt der Mensch Werkzeuge ein? Wo verwandelt sich Funktion in Bedeutung? Wann wird ein Werkzeug zur Geste? Ebenso verweist der vergoldete Reinigungsschrubber auf das Paradox von Reinigung und Entwirklichung, von Pflege und Entfremdung.
Im Denkobjekt tritt das plastische Arbeiten in seinen ganzen Dimensionen zutage: physisch, epistemisch, ethisch, prozessual. Es ist ein Ort des Denkens mit Händen. In ihm materialisiert sich, was im klassischen Erkenntnisprozess oft unsichtbar bleibt: das Wissen des Körpers, der Widerstand des Materials, die Konsequenz der Geste.
Deshalb sind Denkobjekte keine „Werke“ im herkömmlichen Sinne. Sie sind temporäre Verdichtungen eines offenen Prozesses. Sie verkörpern eine Weltbeziehung, die nicht abgeschlossen werden kann. Jeder Griff, jede Berührung, jede Betrachtung aktualisiert ihre Frage neu: Was geschieht, wenn ich handle? Was antwortet die Welt? Wie weit darf die Berührung gehen, bevor sie zerstört?
In dieser Hinsicht stehen die Denkobjekte im Zentrum der plastischen Weltethik: Sie sind konkrete Manifestationen einer berührenden Erkenntnisform, die Verantwortung, Wahrnehmung und Handlung unauflöslich miteinander verschränkt.Kapitel 11: Rückkopplung und Dynamik – Das Maß der Weltformel 51:49
Die plastische Weltbeziehung, wie sie in dieser Theorie entfaltet wird, gründet nicht in festen Formen oder stabilen Zuständen, sondern in dynamischen Prozessen. Im Zentrum dieser Dynamik steht das Prinzip der Rückkopplung: Jede Handlung erzeugt eine Veränderung, die wiederum auf den Handelnden zurückwirkt. Diese permanente Wechselwirkung von Eingriff und Reaktion, von Kraft und Antwort bildet die Grundstruktur des plastischen Denkens.
Rückkopplung beschreibt hier nicht einen geschlossenen Kreis, sondern ein offenes, prozessuales Gefüge. Handlung setzt Veränderung in Gang, doch diese Veränderung läuft nicht linear ab, sondern verändert selbst die Bedingungen des Handelns. Jede Entscheidung erzeugt neue Differenzen, neue Ungleichgewichte, neue Herausforderungen. Das plastische Arbeiten ist damit immer dialogisch: Es antwortet nicht nur auf bestehende Zustände, sondern wird selbst zum Auslöser neuer Zustände, auf die es wiederum reagieren muss.
Um diese prozesshafte Weltstruktur erfassbar zu machen, formuliert die Theorie der plastischen Weltbeziehung eine zentrale Maßfigur: die Weltformel 51:49. Sie beschreibt kein starres Gleichgewicht, sondern das kleinste notwendige Ungleichgewicht, das Dynamik ermöglicht. Ein vollkommenes Gleichgewicht (50:50) würde Stillstand erzeugen. Erst die minimale Verschiebung — ein Überschuss von 1% — setzt Bewegung frei.
In physikalischen, ökologischen und systemtheoretischen Modellen lässt sich diese Logik vielfach nachweisen: In Strömungen entsteht Fluss durch Gefälle, nicht durch Ausgleich; in Ökosystemen bleibt Vielfalt durch Spannungen stabil, nicht durch Homogenität; in neuronalen Prozessen ermöglicht leichte Dominanz eines Impulses die Entscheidung zwischen Möglichkeiten. Auch im künstlerischen Arbeiten bedeutet das: Die Form entsteht dort, wo das Kräfteverhältnis nicht neutralisiert wird, sondern produktiv aus der Spannung heraus agiert.
Die Weltformel 51:49 ist somit kein numerisches Dogma, sondern ein Modell für das notwendige Maß an Asymmetrie, das Prozesse lebendig hält. In der plastischen Arbeit zeigt sich dieses Prinzip in vielfältigen Entscheidungen: Wann ist ein Objekt noch stabil, aber nicht starr? Wann ist ein Eingriff noch transformativ, aber nicht zerstörerisch? Wann bleibt ein Verhältnis zwischen Gestaltung und Überformung noch offen für Rückmeldung?
In dieser Dynamik liegt auch der ethische Gehalt des plastischen Denkens: Nicht alles Mögliche darf getan werden, nur weil es technisch machbar ist. Die plastische Handlung muss sich immer im Spannungsfeld zwischen Einfluss und Zurückhaltung bewegen. Verantwortung bedeutet hier: Die Welt nicht zu perfektionieren, sondern sie so weit zu berühren, dass Bewegung, Vielfalt und Antwortfähigkeit erhalten bleiben.
Die Rückkopplungslogik erfordert zudem die Fähigkeit zum Wahrnehmen von Differenz. Plastische Arbeit ist permanentes Kalibrieren im Verhältnis zur Wirkung. Die Berührung ist nie neutral: Sie verändert, sie löst Reaktionen aus, sie hat Konsequenzen. Gleichzeitig bleibt sie offen für Korrektur, für Umkehr, für Anpassung. Das plastische Denken handelt damit nicht auf ein fixiertes Ziel hin, sondern in einem prozessoffenen Raum, der ständiger Prüfung bedarf.
Im Sinne dieser Theorie wird die Welt nicht durch vollständige Kontrolle erhalten, sondern durch ein bewusstes Akzeptieren von Unvollständigkeit. Die plastische Handlung kennt keine Endlösung, sondern arbeitet innerhalb eines Fließgleichgewichts. Nicht der totale Eingriff, sondern das kluge Maß an Einfluss wird zur Bedingung für die Fortsetzung von Weltbeziehung. Im 51:49 liegt deshalb keine Schwäche der Kontrolle, sondern die Stärke der Anpassungsfähigkeit.
Die Welt selbst, wie sie plastisch erfahrbar wird, ist kein statischer Besitz des Menschen, sondern ein sich ständig neu organisierender Zusammenhang von Kräften, Differenzen und Rückwirkungen. Das plastische Arbeiten spiegelt diese Struktur, indem es den Menschen als Handelnden immer zugleich als Lernenden, Tastenden und Korrigierenden positioniert. Weltgestaltung wird zur Weltverhandlung.
Die Weltformel 51:49 ist somit das epistemische und ethische Herz dieser plastischen Theorie: Ein Maß des Ungleichgewichts, das das Leben erhält. Ein Prinzip, das Handlung erlaubt, aber Übergriff begrenzt. Eine Formel, die nicht Besitz, sondern Beziehung organisiert.Kapitel 12: Reinigung, Gold und Entwirklichung – Zur Ambivalenz der Reinheitsgeste
Reinigen ist eine der ältesten Handlungen des Menschen. Es entfernt, klärt, macht sichtbar. Doch Reinigung ist niemals nur neutraler Akt der Pflege — sie ist immer auch Eingriff, Grenze, Auswahl. Die plastische Weltbeziehung greift diese Ambivalenz der Reinigung auf und führt sie in ihrer doppelten ethischen und epistemischen Bedeutung vor: Reinigung als Geste der Sorge, aber auch als Gefahr der Entwirklichung.
Im Zentrum dieser Überlegung steht das plastische Arbeiten mit Gold und Reinigung in deinen Denkobjekten. Der vergoldete Spaten, der vergoldete Schrubber, die Goldschüssel — sie sind keine Veredelungen im Sinne einer bloßen Erhöhung des ästhetischen Werts, sondern Verkörperungen einer kritischen Reflexion über den Umgang mit Welt. Gold konserviert, schützt, hebt hervor, macht unberührbar. Doch was von Gold überzogen wird, verliert seine ursprüngliche Funktion. Die Nahrung, die ins Goldwasser getaucht wird, ist nicht mehr essbar. Der Arbeitsgegenstand wird zum Bild seiner selbst, verliert seine Berührbarkeit, seine Gebrauchseigenschaft, seine Einbettung in lebendige Prozesse.
Damit knüpft diese plastische Praxis an die mythologische Figur des Königs Midas an: Die Verwandlung aller Dinge in Gold wird hier nicht zur Krönung der Macht, sondern zur Katastrophe der Beziehungslosigkeit. Die Geste der Reinigung durch Gold führt zur Isolation des Objekts — es wird entrückt, entwirklicht. Was berührt wird, wird abgeschlossen. Die Reinheit ist hier keine Befreiung, sondern eine Loslösung vom Lebenszusammenhang.
Die weiße Schüssel mit dem Salz hingegen zeigt die ursprüngliche Ambivalenz der Reinigung: Salz konserviert, desinfiziert, aber es entzieht auch Feuchtigkeit, stoppt Prozesse, konserviert durch Unterbrechung von Leben. Die Reinigung verschiebt das Verhältnis zwischen dem Lebendigen und dem Geordneten. Auch diese Reinigung ist eine Form der Kontrolle, der Selektivität: Was bleibt erhalten? Was wird ausgeschlossen?
Der plastische Umgang mit Reinigung wird so zur ethischen und erkenntnistheoretischen Grenzmarkierung. Jeder Reinigungsakt ist auch eine Entscheidung über das, was akzeptiert, und das, was entfernt wird. In der Welt der Berührung bedeutet Reinigung nicht nur Sorge, sondern auch Unterbrechung des offenen Prozesses. Die Grenze zwischen Pflege und Übergriff ist schmal: Zu viel Reinigung zerstört das, was sie erhalten wollte.
Diese Einsicht überträgt sich in die Gesamtlogik des plastischen Denkens. Weltbeziehung bedeutet nicht, Störungen auszuräumen, sondern sie auszuhalten. Leben geschieht nicht in der perfekten Reinheit, sondern in der kontrollierten Offenheit des Prozesses. Die plastische Geste muss immer beides berücksichtigen: die Notwendigkeit von Ordnung und die Gefahr ihrer Übertreibung. Das Maß der Welt liegt nicht in der maximalen Reinigung, sondern in der Fähigkeit, mit dem Unreinen, dem Widerständigen, dem Unfertigen zu arbeiten.
Gold, als das extremste Reinigungsmittel, zeigt dabei die äußerste Grenze dieser Problematik: die Schwelle, an der Reinigung in totale Entwirklichung kippt. Was nicht mehr berührbar ist, ist nicht mehr Teil der Weltbeziehung. Deshalb ist das plastische Arbeiten mit Gold in deiner Praxis keine Erhöhung der Dinge, sondern ihre Gefährdung — sichtbar gemacht als kritische Reflexion auf den Umgang des Menschen mit seinen Objekten, mit der Welt, mit sich selbst.
Die Reinigung wird somit in der plastischen Weltbeziehung zur ethischen Prüfung: Wie viel Pflege braucht die Welt — und ab wann wird diese Pflege zur Entfernung? Ab wann entziehen wir dem Lebendigen seine Prozesshaftigkeit, indem wir es in unberührbare Reinheit überführen? Diese Fragen werden im plastischen Arbeiten nicht theoretisch verhandelt, sondern materiell ausagiert — im Gießen, Vergolden, Berühren, Stabilisieren, Loslassen.
Die Reinheitsgeste ist kein Nebenmotiv. Sie steht im Zentrum der gegenwärtigen Schöpfungsfrage: Wie kann der Mensch gestalten, ohne die Welt zu entwirklichen? Wie kann er pflegen, ohne sich von ihr abzukoppeln? Wie kann er berühren, ohne zu zerstören? Die plastische Weltbeziehung antwortet darauf nicht mit Konzepten, sondern mit Maß, mit Verhalten, mit Handlung im Material.Kapitel 13: Der Erntetisch als Weltmodell – Plastische Ernte, Gabe und Rückgabe
Die plastische Weltbeziehung kulminiert im Erntetisch als einer dichten Anordnung von Material, Handlung und ethischer Geste. Dieses Objekt ist keine Skulptur im klassischen Sinn, sondern ein funktionales Denkobjekt: ein Ort der Berührung, der Nahrung, des Dankens und des Erinnerns. Es übersetzt die abstrakten Fragen der Weltbeziehung in eine konkrete, gestaltete Handlung, die auf der Ebene des Materials sichtbar und auf der Ebene der Ethik wirksam wird.
Der Ausgangspunkt des Erntetisches liegt im unmittelbaren Arbeiten mit der Landschaft. Auf einer abschüssigen Gartenfläche wird Wasser ausgegossen. Das Wasser sucht sich seinen Weg: Es entstehen kleine Flussläufe, Strömungslinien, Ablagerungen und Erosionszonen. Diese temporäre Landschaft ist keine konstruierte Idee, sondern ein realer Selbstorganisationsprozess der Naturkräfte. Die Wasserströme modellieren den Boden nach den Prinzipien von Gravitation, Reibung, Sedimenttransport und Fließdynamik.
In einem zweiten Schritt wird dieser Naturprozess plastisch fixiert. Gips wird in die temporären Rinnen und Vertiefungen gegossen, Eisenstäbe dienen zur Stabilisierung der Form. Nach dem Trocknen wird die Erde wieder entfernt, sodass ein negatives Relief der ursprünglichen Flussbewegung sichtbar wird. Diese Form ist nicht bloß ein Abbild der Landschaft, sondern eine verdichtete Spur der natürlichen Kräfte, die durch Handlung eingefroren wurden. Es entsteht eine plastische Topografie der Bewegung: keine Darstellung, sondern ein Prozesskörper.
In der Funktion als Erntetisch verwandelt sich diese Struktur in einen Handlungsraum. Die Mulden und Vertiefungen des Flussbettes werden mit den Früchten des Gartens gefüllt: Äpfel, Trauben, Gemüse, Körner, Samen. Die geernteten Gaben werden nicht symbolisch präsentiert, sondern körperlich in die geformte Landschaft zurückgeführt. Hier treffen Naturkreislauf und menschliches Handeln in einer bewussten Geste der Gabe und Rückgabe aufeinander. Die Nahrung liegt nicht auf einem neutralen Teller, sondern in den geformten Spuren des Wassers — ein Bild für die Abhängigkeit des Menschen von der natürlichen Dynamik, aus der die Nahrung hervorgeht.
Der Erntetisch ist zugleich ein Ort der Berührung. Die Besucher*innen können die Flussform ertasten, den Verlauf der Strömungen nachverfolgen, die Kräfte der Entstehung mit der Hand rekonstruieren. Hier wird der abstrakte Begriff der Rückkopplung unmittelbar körperlich nachvollziehbar: Wo hat das Wasser stärker gewirkt? Wo wurde Material abgetragen? Wo sammelte es sich? Der Tisch wird so zu einem Lernort für die plastische Intelligenz der Natur — und für die Verantwortung, die der Mensch ihr gegenüber trägt.
In seiner Anlehnung an den Abendmahltisch evoziert diese Arbeit zudem eine theologische Dimension. Doch sie bleibt nicht im sakralen Ritual, sondern verschiebt die Geste in eine weltliche, materielle Praxis. Der Dank richtet sich hier nicht an eine transzendente Instanz, sondern an die konkrete Welt, die trägt, nährt und zugleich auf Eingriffe reagiert. Es ist eine Form von Erntedank, die nicht konsumiert, sondern Beziehung ausstellt.
Der Erntetisch steht damit exemplarisch für die Grundstruktur der plastischen Weltbeziehung: Berührung, Rückmeldung, Handlung, Verantwortung. Er zeigt, dass Welt nicht passiv vorhanden ist, sondern sich im Verhältnis von Kräften, Materialien und Entscheidungen immer neu strukturiert. Im plastischen Arbeiten wird die Natur weder idealisiert noch überformt, sondern ernst genommen als ein sich ständig wandelndes Gegenüber, das Antworten gibt — und Konsequenzen fordert.
Dieses Werk verdeutlicht die zentrale Fragestellung des gesamten plastischen Denkens: Wie kann der Mensch in die Welt eingreifen, ohne sie zu entwirklichen? Wie kann er gestalten, ohne zu dominieren? Wie kann er Dankbarkeit zeigen, ohne Besitzanspruch zu erheben? Der Erntetisch bietet keine Antworten im Sinne eines fertigen Systems, sondern eine dichte, berührbare Versuchsanordnung, in der sich Ethik, Materialität und Weltverhältnis als Handlung überlagern.
Kapitel 14: Der Zwischenraum der Handlung – Subjektwerdung durch plastische Beteiligung
Die bisher entwickelten Denkfiguren kulminieren in einer grundsätzlichen Revision des Subjektbegriffs. Im plastischen Weltverhältnis ist der Mensch nicht länger autonomer Beobachter, sondern wird erst im Vollzug der Berührung, im Widerstand des Materials und im Verhältnis zur Welt als Subjekt hervorgebracht. Subjektsein ist hier keine Gegebenheit, sondern ein relationaler Prozess, der sich im Zwischenraum von Handlung und Reaktion entfaltet.
In der klassischen Philosophie erscheint das Subjekt oft als souveränes Zentrum der Erkenntnis (Descartes), als intendierender Bewusstseinsstrom (Husserl), oder als denkendes, symbolisch vermittelndes Wesen (Kant). Diese Modelle setzen das Subjekt als vorgängigen Träger des Denkens, während die Welt als Objekt dem Subjekt gegenübertritt. Die plastische Weltbeziehung bricht mit diesem Dualismus: Hier entsteht das Subjekt erst durch die Berührung mit dem Anderen — dem Material, dem Ort, der Form, der Rückkopplung.
Die Handlungsräume, die in den bisherigen Kapiteln beschrieben wurden — der Erntetisch, die vier Schüsseln, der Flusstisch, der Tang, die Denkobjekte — sind keine Bühnen für ein fertiges Ich. Sie sind vielmehr Konstellationen, in denen das Subjekt überhaupt erst zur Erscheinung kommt: als Akteur im Widerstand, als Beteiligter am Prozess, als Antwortender auf Rückmeldungen. Die Hand, die das Material formt, wird dabei selbst geformt. Das Werkzeug, das führt, führt auch den Führenden. Die Berührung wird zur wechselseitigen Formbildung.
In diesem Sinne ist plastische Subjektwerdung weder bloß intentional noch zufällig. Sie ist situiert im Zwischenraum des Wirkens. Dieser Zwischenraum ist keine Leerstelle, sondern eine Zone maximaler Gegenwärtigkeit: Wo das Denken die Bewegung noch nicht vollständig erfasst, wo die Entscheidung bereits getroffen, aber noch nicht bewusst vollzogen ist, wo das Material noch antwortet, während die Hand bereits reagiert. Dieser Zustand gleicht neurophysiologischen Befunden, die zeigen, dass Entscheidungen häufig unbewusst vorbereitet werden, bevor sie ins Bewusstsein treten. Die plastische Handlung ist somit auch ein Erfahrungsraum des prä-reflexiven Subjektwerdens.
Zugleich ist dieser Zwischenraum ethisch aufgeladen. Denn mit jeder Handlung, die Welt berührt, entsteht Verantwortung. Nicht weil das Subjekt souverän wäre, sondern gerade weil es Teil eines Systems von Rückwirkungen wird. Jede plastische Entscheidung ist damit zugleich ein ethischer Akt: Sie verändert, fordert Antwort, erzeugt Folgen, verlangt Achtsamkeit. Verantwortung erwächst nicht aus Kontrolle, sondern aus Präsenz im Widerstand.
Dieses Modell des Subjektwerdens durch Handlung hat auch eine erkenntnistheoretische Implikation: Es verschiebt den Ort des Wissens aus dem abstrahierenden Geist hinein in den tätigen Körper. Wissen entsteht nicht nur durch Distanz, sondern durch Nähe, durch Spüren, durch prozessuales Begreifen. Die plastische Praxis erzeugt eine Form von leibgebundenem, situiertem Wissen, das nicht in Begriffen endet, sondern in der Erfahrung selbst gründet.
Die Denkobjekte, die in diesem Prozess hervorgehen, sind daher nicht bloße Resultate von Subjektivität, sondern gleichsam Ko-Akteure des Subjektwerdens. Der Erntetisch, die vergoldeten Reinigungsgeräte, die Flussstruktur — sie alle sind Mitspieler im fortlaufenden Prozess plastischer Subjektbildung. Sie sind Resonanzkörper für die Frage: Was wird aus mir, wenn ich handle? Und was wird aus der Welt, wenn ich es tue?
Somit begreift die plastische Weltbeziehung den Menschen nicht als Herrn über die Welt, sondern als einen immer neu hervorgehenden Knotenpunkt zwischen Kräften, Widerständen und Beziehungen. Subjektsein wird hier zu einem aktiven Geschehen: ein Werden im Handeln, kein Sein im Besitz.
Kapitel 15: Das Maß der Rückkopplung – Die Weltformel 51:49 als Regelsystem plastischer Dynamik
Im Zentrum der plastischen Weltbeziehung steht nicht ein statisches Gleichgewicht, sondern eine präzise dosierte Asymmetrie, die dynamische Stabilität erzeugt. Dieses Grundverhältnis wird durch die Weltformel 51:49 ausgedrückt: ein Maß minimaler Ungleichheit, das Bewegung ermöglicht, Rückkopplung erzeugt und Entwicklung erlaubt, ohne ins Chaos zu kippen.
Diese Formel beschreibt kein metaphysisches Gesetz, sondern eine funktionale Konstellation von Spannungsverhältnissen. In vollkommen symmetrischen Systemen herrscht Stillstand; in extremen Ungleichgewichten drohen Instabilität und Zerstörung. Zwischen beiden Polen liegt ein schmaler Bereich produktiver Unwucht: genau dort, wo ein Übergewicht von 51% Bewegung initiiert, während die verbleibenden 49% Stabilität sichern. Dieses Maß findet sich in physikalischen Prozessen (etwa in Strömungsdynamiken, Gradienten, Energieflüssen), in ökologischen Gleichgewichten (etwa in Nahrungsketten, Populationen), in sozialen Systemen (etwa in Machtbalancen), ebenso wie in künstlerischen Handlungsräumen.
In der plastischen Praxis bildet 51:49 das operative Maß für jede Handlung am Material. Jede Intervention — sei es das Kippen von Wasser auf einen Erdabhang, das Tauchen eines Objekts in Goldwasser, das vorsichtige Vergolden eines Reinigungswerkzeugs — folgt diesem Prinzip funktionaler Instabilität: Es wird so viel eingegriffen, dass Form entstehen kann, aber nicht so sehr, dass das System kollabiert. Die Form entsteht aus der Spannung zwischen Einfluss und Widerstand.
Auch in der Handlung des Erntetischs, bei dem Früchte, Samen und Gemüse in die Flussstruktur gelegt werden, wirkt diese Formel. Die Früchte füllen die Vertiefungen nicht vollständig auf. Es bleibt immer ein Rest an Leere, an Offenheit. Die Nahrung wird eingebracht, aber nicht vereinnahmt. Der Tisch wird genutzt, aber nicht abgeschlossen. In dieser Spannung wird Erntedank nicht zur bloßen Geste des Nehmens, sondern zur plastischen Verhandlung von Gabe und Rückgabe.
Die Weltformel 51:49 beschreibt zudem den ethischen Kern der plastischen Verantwortung: Der Mensch darf handeln, gestalten, eingreifen — aber nur, solange das Verhältnis gewahrt bleibt. Ein Überschreiten der Grenze führt zur Entwirklichung: Nahrung, die durch Goldwasser ungenießbar wird; Erde, die durch Reinigung sterilisiert wird; Landschaft, die durch Zerstörung zur Kulisse verarmt. Die Formel markiert die Grenze zwischen Teilnahme und Zerstörung.
In erkenntnistheoretischer Hinsicht wird 51:49 zu einem Maß des offenen Wissens. Erkenntnis entsteht nicht durch vollständige Kontrolle, sondern durch die Bereitschaft, einen Rest an Unkontrollierbarem zuzulassen. Der künstlerische Prozess ist nicht die Umsetzung eines Plans, sondern die Begleitung eines Prozesses, in dem Widerstand und Materialantwort unverfügbar bleiben. In dieser Unsicherheit entfaltet sich plastisches Denken.
Die Weltformel ist damit auch ein kritisches Gegenmodell zu Totalitätsansprüchen: weder vollständige Unterwerfung der Welt unter das Subjekt, noch vollständige Unterwerfung des Subjekts unter das Chaos der Welt. Stattdessen: ein feines Spiel von Einfluss und Rückmeldung. Ein Maß des Weltverhältnisses, das den Menschen nicht als Herrn, sondern als Mitspieler begreift.
In dieser Form wird 51:49 zur plastischen Grundfigur der Gegenwart. Sie beschreibt das Verhältnis aller vorhergehenden Kapitel: des Subjektwerdens, der Berührung, der Rückkopplung, der Verantwortung, der Denkobjekte und der ethischen Handlung. Die plastische Weltbeziehung lebt nicht von der Idee des Gleichgewichts, sondern von der Kunst, im Ungleichgewicht standzuhalten.