9.November
Datei...Konzeptpapier zur Work-art
Das teleologische Eingangsaxiom der Austellung "9. November 1994 - Jetzt haben wir die Erfahrung - Nicht erwünschte Einmischung in die inneren Angelegenheiten" und der Künstlergruppe "Die kollektive Kraetivität" ist die Annahme einer folgenden zukunftigen Entwicklung:
Aufgrund seiner inneren Widersprüche, seiner sich selbst blockierenden oder aufhebenden Dynamiken, seiner Entfremdung gegenüber der natürlichen materiellen Basis (bzw. ihrer Verkehrung) und seines an Grenzen angekommenen Denkens und Handlens muß ein Umkippen des (nun weltweit dominierenden) westlichen Gesellschaftssystems angenommen werden. Als Arbeitshypothese gilt das Jahr 2000.
Nach dem mit dem 9. November 1989 in der historischen Rückschau feststellbaren Ende der Systemkonkurrenz zwischen zwei Gesellschaftsentwürfen, dem diskursiven Ende einer neuen Vision und der real verunmöglichten Suche nach dem Dritten Weg, bleibt augenblicklich allein der Bereich der Kunst, sich um das Thema "Zukunft" zu kümmern.
Mit diesem Medium wird eine Zunkunftsprojektion installiert, die über einen Spiegelprozeß (auch der Geschichte von den Uranfängen menschlicher Zivilisation bis zur jüngsten Gegenwart) den logischen Punkt des Umkippens bewußt macht und einen Versuch der Aufhebung einleiten will. Es ist ein vorweggenommener Gedankengang, in der Art des Voraussehens eines idealen Moments zur fotografischen Umsetzung einer Situation. Der Spiegelprozeß lauft deshalb wie ein umgedrehter Prozeß des Fotografierens ab, allerdings unter Einbeziehung der komplexen globalen Situation (und damit im Heute um eine neue qualitativ Dimension erweitert). So ist das "Wann" des angenommenen Umkippens im Jetzt der Gegenwart nicht (zeitlich) nicht beschreibbar. Es kann nur die Beschreibung eines "Toleranzraums" angestrebt werden, innerhalb dessen die Bewegungsdynamiken sich zu einem Nullpunkt, einer Neutralisation und Bewegung unmöglich machenden Festigkeit überlagern. Der Begriff des Toleranzraum ist analog zu Erkenntnissen über bewegungsdynamische Gesetzmäßigkeiten gebraucht.
Als in der Zukunft stattfindende Konstellation, die heute gleichwohl erkannt werden kann (also als nicht hinten wirkende Voraus-Projektion), ist dieser Nullpunkt ein Punkt der Entscheidung. Es ist der Punkt, an dem es um die Fortsetzung des Jetzt-Zustands oder des Jetzt-Prozesses einer immer größeren Entfernung aus dem Toleranzraum der Beziehungsauseinandersetzung der Spezies Mensch mit ihrer eigenen Natur und/oder der Basis Natur geht (bzw. deren schon allgegenwärtig vorhandenen Umkehrung). Oder die Menschengemeinschaft entscheidet sich für eine andere Richtung: zu mehr Authenzität, zu einem Verhältnis von mehr Wirklichkeit.
Als wichtiger Phänomenbestand sowohl einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung wie der Konstatierung des Gegenwartszustands menschlicher Denk-, Sprach und Verhaltensmustern läßt sich in der Linie der bewegungsdynamischen Herangehensweise festhalten, daß menschliche Wahrnehmung und Umwelterfahrung durch ein Einströmen von tausenden von Sinneseindrücken geprägt ist. Zu ihrer Erfassung sind sicher gewisse (geschichtlich-gesellschaftlich-kommunikativ gewachsene) Zuordnungsmuster und Einordnungskriterien nötig. Sie beinhalten in ihrer kontextuellen Gewachsenheit Ein- und Ausgrenzungen, die, ursprünglich als Ordnungs- und Selbstversicherungsraster entstanden, rituelle Charaktermerkmale tragen. Trotzdem müssen in ihnen, wegen ihrer Entstehung als Wahrnehmungsfunktionen des Naturwesens Mensch, gemeinsame Kerne, Parallelitäten und Selbstähnlichkeiten vorhanden sein - auch in Bezug auf die Beziehungsauseinandersetzung Mensch-Natur-Menschennatur. Bildlich ausgedrückt befinden wir uns alle innerhalb eines Kreises, dessen Kreislinie die Grenze möglicher Lebendigkeit, die Natur darstellt. Aus der Perspektive der Anordnung des Bewußtseins gibt es im Inneren ein differenziertes und vielschichtiges Netzmuster, dessen einzelne Unterteilungen immer wieder in einer Auseinandersetzung und Suche nach der Identität mit der Kreislinie stehen.
Als Analyse oder Beschreibung des Gegenwartszustandes oder des Jetzt läßt sich festhalten: Die anscheinend alternativlos gewordene Gesellschaftsform der westlichen Welt (oder des Kapitalismus) mit ihren Denk- und Organisationsstrukturen hat über die Identitäts- oder Wirklichkeitsgrenze der Kreisbahn eine Reihe von Verfremdungsebenen, von Isolationsschichten gelegt. Es ist auf diese Weise ein Zustand wie in einer Käseglocke, in der eine Nebelatmosphäre entstanden ist, erzeugt worden. Zudem ist durch (verschleierte, vernebelte) Isolierung der einzelnen Zuordnungs- oder Adaptionsraster eine Abgrenzung untereinander entstanden. Beide sind verantwortlich, ursächlich für die Starre/Kälte der Gegenwart, des Jetzt. Dazu kommt, daß der bewußt zur Verschleierung der eigenen Funtionsmechanismen vom westlichen System erzeugte Nebel zu einer zweiten, künstlichen Wirklichkeitserfahrung geführt hat. Das Beziehungsverhältnis Mensch-Natur ist umgekippt wie die Windung der Möbius-Schleife: die Natur, Natürlichkeit liegt oben, ist kraftlos.
Bei der Methode des Spiegelprozesses wird ein von der Vorausahnung erspührter, aber im gesellschaftlich-realen Beziehungsgeflecht zeitlich nicht exakt für die Zukunft zu bestimmender Momenthorizont entworfen, der sich unter der Annahme einer starr linearen Fortentwicklung der analysierten Gegenwart ergibt. In diesem Sinne findet eine strenge Reduzierung eines sich nach der Analyse als komplexer darstellenden und nur von verschiedensten Ebenen zugänglichen Zusammenhangs statt. Das "Handwerkszeug" ist also eine künstlicher Entwurf oder eine künstliche Konstruktion eines auf einer linearen Kausalkette beruhenden Entwicklungszusammenhangs. Die Berechtigung dazu ist aus zwei Gedankengängen hergeleitet:
a) Es ist eine direkte Ressonanz auf den inhaltlichen Kern eines "Weiter So".
b) Weil festgestellt werden kann/konnte, daß die zum westlichen Gesellschaftssystem der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie dazugehörige dominierende Denkform das linear-kausale Denken in einer angenommenen Drei-Dimensionalität ist (und sie in der Praxis des sehr oft auf die einfache Formel Gewinner-Verlierer reduzierten deutschen Vereinigungsprozesses anzutrefen war), spricht einiges für die Richtigkeit.
Darüberhinaus zeigt die Basis der Projektion, eine implizit enthaltene "Grabung" in der Geschichte menschlicher Wissens- und Erkenntnisproduktion und ihrer Adaption/Aufnahme, das im westlich-europäischen Denken die kausal-logische Linearität als bestimmende Denklinie sich durchgesetzt hat.
Dennoch bildet das Spiegeln einen bespielhaften Entwurf aus. Als Reflexionsfläche aus dem Jetzt (und der Vergangenheit) nimmt es deren Ressonanzwellen auf und gibt sie wie mit einem Brennglas gebündelt, aber auch die Vielschichtigkeit der (notwendigen) Betrachtungsebenen zeigend zurück. Insgesamt dreht das Spiegeln die Entwicklung zu Verfestigungszusammenhängen herum und projeziert ihre durch Einseitigkeit enstandene/entstehende Negativ-Vision nach vorne. Damit sichtet sie in der historischen Entwicklung die qualitativen Umschläge von Entwicklungen auf neue Ebenen und stellt nach vorne gleichzeitig die Frage nach Entscheidungsalternativen.
Die Schwierigkeiten, Einschränkungen und die Problemstellung, die damit verbunden sind, liegen in der Einbeziehung und im Einfluß des Zeitfaktors. Indem, wie beim Fotografieren, der Augenblick, der Zeitausschnitt vergegenständlicht wird, wird er verobjektiviert, die anvisierte Zeit in zwei Pole ("Subjekt" und "Objekt") aufgespalten. Andererseits wird damit nur die gängige, ständig vorhandene und unterschwellig ablaufende Aufspaltung, die sich in tausendfachen Varianten abspielt und als dauernde alltägliche Übung des auschnittshaften fotografischen Sehens verinnerlicht wird, gespiegelt und als Fiktion entlarvt.
Denn: In der Gerichtetheit der Zeit ist immer Dynamik, Bewegung und eine Widerstandsauseinandersetzung gegen Festes impliziert. Auch die aus vielfältigen und komplex sich überlagernden Rastern zusammensetzende Anordnung der Abstraktions- und Vergegenständlichungsbilder ist nur eine vorläufige, zeitlich bedingte, offene wie ihr Spiegelbild, die Negativ-Vision.
Im Spiegelbild wird also nur ein kurzer Augenblick der Kristallisation, des Innehaltens, des Abschaltens angestrebt, um Fragen aufzuwerfen:
Wo stehen wir als Menschen eigentlich?
In welcher Ebene des Denkens, der Ritualisierungen, der Abgehobenheit, der Entfremdung sind wir eigentlich schon gelandet?
Sind wir schon im Zustand einer Träumerei oder sind wir noch zu einer neuen Qualität der Wahrhaftigkeit fähig?
Wohin wollen wir als Menschen eigentlich? Sind wir nur noch Objekt unserer selbst, in einer Art permanenter Schizophrenie, in einem Dauerautismus?
Mit der Einschränkung der eigenen, Bewegungsdynamiken teilweise vergegenständlichen müssenden Abstraktions- und Abbildungsleistung steht die Ausstellung beipielhaft für:
- das Aufspüren des kurzen Moments des Umkippen der Fragestellung nach einer neuen Gesell-
schaftsform (bezogen sowohl auf das historische Datum des 9. Novembers 1989 mit seinen
Vorlaufdaten 4. und 5. November, wie des zukünftigen Datums eines letzten Umkippens der
Zukunftsperspektiven der gesamten Menschheit nach dem Vorbild der Möbius-Schleife)
- das Nichterlaubtsein oder das nur scheinbare Erlaubtsein zur Entwicklung eines Gegenent-
wurfs aufgrund des Fehlgeleitetseins von Antriebskräften
- den Ausschluß der gedanklichen Erfassung und Einbeziehung von Wissen über Bewegungs-
dynamiken und Auseinandersetzungen und Beeinflussungen in Grenzbereichen und im Rahmen
von Wechselbeziehungen durch das linear-logische Denken (d.h. die Nichtberücksichtigung
von kybernetischem Denken und die Unterdrückung der rechten, die kreativen Anlagen tragen-
den Gehirnhälfte) - und damit für den Ausschluß, überhaupt die Möglickeit von Selbstregu-
lationsmodellen und Selbstorganisationsformen einzubeziehen
- für die Notwendigkeit zur Bewußtmachung einer qualitativ neuen Not-Wendigkeit als gesell-
schaftlichem Muß für eine Zukunft
Letztlich zielt die Fragestellung der Ausstellung auf eine Art Weltformel, die aber nur durch die Mobilisierung und das Zusammenbringen aller menschlichen Talente, Qualitäten und durch das das Aufspüren des Zusammenwirken ihrer verschiedensten Wertigkeiten und Dynamiken (auch in Beziehung zu ihrer Naturabhängigkeit) gefunden werden kann. Sie legt den Kern der gesellschaftlichen Kraft der "kollektiven Kreativität" frei, der nach Ansicht der Künstlergruppe nur im Wechselspiel zwischen offenen und geschlossenen Formen, offenem und geschlossenem Denken, Bewegung, Festigkeit und Widerstandsbeziehungen liegen kann.
Um die Annahme eines Gemeinsamen, einer gemeinsamen Basis, eines Miteinander-Könnens machen zu können, wird von einer unter den verschieden und sich komplex zusammensetzenden Konstitutionsschichten liegenden Selbstähnlichkeit des Eigenen ausgegangen. Sie dürfte ihre natürliche Basis im Balken zwischen den beiden Gehirnhälften des linear-logischen und des kreativ-offenen Denkens haben, der als "Kommunikationskanal" im biologischen Zentrum menschlichen Denkens zwischen zwei radikal unterschiedlichen Denksystemen vermittelt.
Diese Selbstähnlichkeit ist allerdings in sich wieder kein ein für allemal endgültig eingrenzbares Gebilde. Sie ist Vermittlungsinstanz zwischen Festhalten und Fallenlassen, verobjektivierend-kristallisierendem und organisch-dynamischen Erfassen und damit permanente Kommunikations- und Austauschauseinandersetzung.
Diese Austellung basiert auf Vorarbeiten, die sich über längere Zeit mit dem Thema "kollektives Bewußtsein, kollektiver Bewußtseinsplastik und sozialer Organismus" beschäftigten, und einem neunmonatigen Austellungszyklus im Haus der Demokratie, an dessen Ende u.a. das fiktive Kunstwerk des Integrationsmodells zur Einheit und der exemplarische Entwurf zu einer "lebendigen Bürgergesellschaft" standen. Sie stellt gleichzeitig die Reduzierung einer geplanten größeren Ausstellung beim Ökogipfel in Berlin im nächsten Frühjahr dar, wo ausführlich das Thema "Selbstähnlichkeit" auf die Tagesordnung gebracht wird.