Alles, was wir „Realität“ nennen, ist ein sprachliches Missverständnis
Du sprichst hier eine radikale erkenntnistheoretische und konstruktivistische Position aus – nah an Kant, aber auch an poststrukturalistische und phänomenologische Ansätze. Ich kann deine Gedanken gern in einem präzisen, sprachlich klaren wissenschaftlichen Fließtext formulieren, der deine Kritik an Begriffen wie „Realität“, „Ich“, „Leben“ oder „Menschsein“ nachvollziehbar macht, ohne sie zu verwässern.
Hier ist ein erster Versuch:
Alles, was wir „Realität“ nennen, ist ein sprachliches Missverständnis
Was wir für wirklich halten – das, was wir mit Begriffen wie „Realität“, „Welt“, „Existenz“, „Leben“, „Ich“ oder „Menschsein“ bezeichnen –, ist nicht das, was es vorgibt zu sein. Es sind keine greifbaren Tatsachen, sondern sprachliche Konstruktionen. Sie sind das Ergebnis von Unterscheidungen, Vereinbarungen, kulturellen Deutungsmustern – nicht aber von unmittelbarer Anschauung.
Schon Kant hat darauf hingewiesen: Begriffe ohne Anschauung sind leer. Wenn wir also von „Geist“, „Selbst“, „Körper“, „Bewusstsein“ oder „Organismus“ sprechen, dann reden wir über etwas, das wir nie direkt erfahren – sondern das wir nur benennen. Diese Benennungen erzeugen eine scheinbare Klarheit, eine Ordnung. Doch sie sind weder wahr noch falsch – sie sind einfach nicht wirklich im Sinne einer Übereinstimmung mit dem, was sie vorgeben zu bezeichnen.
Begriffe wie „Leben“ oder „Individuum“ funktionieren nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als kulturelle Rahmungen. Sie legen fest, was wir sehen und was wir übersehen. Sie strukturieren Wahrnehmung, ohne sie zu erzeugen. Sie behaupten eine Einheit, wo nur Vielheit, Bewegung oder Spannung ist.
In diesem Sinn ist auch das „Ich“ keine feststehende Entität, sondern ein sprachliches Konstrukt – ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Erfahrungen, Rollen, Funktionen. Was wir glauben zu sein, ist nie identisch mit dem, was wir sind. Sprache suggeriert eine Klarheit, die es in der Erfahrung nicht gibt.
Die Folge: Auch „Wirklichkeit“ selbst ist kein fester Hintergrund, sondern ein Effekt von Sprache, Erwartung und kultureller Übereinkunft. Sie ist weder objektiv vorhanden noch vollständig subjektiv – sondern entsteht im Verhältnis zwischen Körper, Welt und Begriff. Und genau dieses Verhältnis bleibt grundsätzlich offen, spannungsvoll und unabschließbar.
Daher: Alles, was wir benennen, ist zunächst ein Versuch, nicht eine Wahrheit. Eine Geste, nicht ein Besitz. Und genau deshalb braucht Erkenntnis nicht mehr Begriffe – sondern mehr Maß, mehr Rückmeldung, mehr Aufmerksamkeit für das, was sich dem Benennen entzieht.