Alltag als Labor
Einleitung – Schule des Weltbezugs
Vom Stoff zum Denken
Die Schule des Weltbezugs beginnt nicht im Kopf. Sie beginnt im Tun. In der Küche, im Garten, am Schnittpunkt von Hand und Material. Dort, wo der Mensch nicht nur denkt, sondern handelt – und spürt, was dieses Handeln bewirkt. Die grundlegende Einsicht dieser Praxis lautet: Denken ist nicht unabhängig vom Körper, von Stoff, von Handlung. Der Stoff ist nicht das Gegenteil des Gedankens – er ist sein Ursprung.
Diese Schule widerspricht der langen abendländischen Tradition, in der Erkenntnis vom Materiellen abstrahiert wurde, zugunsten symbolischer Ordnungssysteme, idealer Formen, symmetrischer Prinzipien und universeller Ideen. In dieser Geschichte – von Platon bis zur digitalen Simulation – hat sich ein Bewusstsein entwickelt, das seine Fähigkeit zu reflektieren höher bewertet als seine Fähigkeit zu handeln. Doch jede Form von Denken, die sich nicht an der Konsequenz der Handlung überprüft, bleibt hypothetisch. Und jede Ethik, die sich nicht am Stoff erprobt, bleibt Theorie.
In der Küche begegnet uns eine andere Form des Weltverhältnisses: unmittelbar, ungeschützt, leiblich. Wer eine Kartoffel schält, verändert die Welt. Er greift ein. Er trennt Schichten. Er zerstört eine Oberfläche, um Zugang zum Inneren zu erhalten. Wer kocht, schneidet, würzt, konserviert oder verwandelt, wird zum aktiven Teil eines Prozesses, der nicht symbolisch ist, sondern stofflich. Genau hier setzt die Schule des Weltbezugs an. Sie nutzt alltägliche Materialien und Tätigkeiten, um Denkobjekte zu erzeugen – konkrete, greifbare Konstellationen zwischen Stoff, Handlung und Bedeutung.
Ein Denkobjekt ist keine abstrakte These. Es ist ein Berührungsort zwischen Welt und Bewusstsein. Es zeigt nicht nur etwas – es antwortet. Es verlangt Auseinandersetzung. Es stellt Fragen, indem es sich widerständig zeigt. Denkobjekte entstehen durch Eingriff: durch das Schälen einer Zwiebel, das Zerschneiden eines Apfels, das Vergolden einer Kartoffel. Diese Handlungen schaffen nicht nur Veränderungen im Material, sondern auch Reflexionsräume im Denken. Denn jede Handlung trägt eine Grenze in sich – eine Schwelle zwischen dem, was war, und dem, was dadurch geworden ist.
Das Messer – ein wiederkehrendes Werkzeug dieser Praxis – ist kein Symbol der Gewalt, sondern der Differenz. Es trennt, damit etwas erkannt werden kann. Es erzeugt Konsequenz. Es erlaubt keine Rücknahme. In diesem Sinn wird die Verletzungswelt zum Denkraum. Denn sie ist real. Sie zeigt, was sich verändern lässt – und was nicht. Das unterscheidet sie von der Welt der Unverletzlichkeit, wie sie im symbolischen Denken gepflegt wird: dort, wo alles simuliert, geplant, dargestellt oder rückgängig gemacht werden kann, bleibt Verantwortung abstrakt. Nur im Stoff – im Kochen, im Schneiden, im Tun – wird Handlung überprüfbar.
In der Schule des Weltbezugs geht es nicht darum, ein Gegenüber zu verstehen, sondern mit ihm in Beziehung zu treten. Die Apfelhälfte zeigt eine Sternstruktur, die nicht erfunden, sondern sichtbar gemacht wurde. Der Brokkoli trägt in sich fraktale Spiralen, die von einem Wachstumsprinzip erzählen, das keine Symmetrie kennt, sondern Verhältnis. Die vergoldete Kartoffel hingegen, einst Nahrung, nun Symbol, verweist auf ein anderes Verhältnis: das zwischen Glanz und Verfall, zwischen Bild und Wirklichkeit. Unter der goldenen Hülle beginnt die Fäulnis. Wie in der Geschichte von Midas wird deutlich: Das, was zu wertvoll gemacht wird, verliert seine Funktion. Der Mensch, der sich selbst als Ware denkt, erscheint auf der Projektionsleinwand nur noch als Schatten – als Bild eines Subjekts, das seine Stofflichkeit verleugnet hat.
Die Schule des Weltbezugs kehrt diesen Prozess um. Sie will nicht noch mehr Bilder erzeugen, sondern Verhältnisse. Sie arbeitet mit Dingen, die riechen, zerfallen, schmecken, sich widersetzen. Sie fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Rückbindung. Sie sucht kein System, sondern Maß. Ihre Grundlage ist eine Form des Denkens, die im Tun wurzelt – eine Asymmetrologik: nicht als Theorie, sondern als gelebte Differenz. Nicht Identität, sondern Beziehung. Nicht Ideal, sondern Handlung.
Was hier entsteht, ist keine Kunst im musealen Sinn, sondern ein ästhetisches Weltverhältnis. Eine Alltagsforschung mit den Mitteln des Körpers. Eine Ethik des Greifens. Eine Philosophie aus der Küche. Hier entsteht kein Dogma, sondern eine Haltung: zu hören, zu berühren, zu begreifen – im ursprünglichen Sinn des Wortes.
Denn alles Denken beginnt dort, wo etwas in die Hand genommen wird.
Und dort, wo der Stoff wirkt – beginnt Welt.