Ausgangsfrage: Entstehung eines kontrollierenden und besitzfixierten Menschenverständnisses

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Die zentrale Frage des Gesamtzusammenhangs lautet nicht, ob das heutige Menschen- und Individuumsverständnis problematisch ist, sondern wie es historisch überhaupt entstehen konnte: ein Selbstverständnis, das von Kontrollanspruch, Besitzdenken und der Überzeugung geprägt ist, prinzipiell alles verfügbar, beherrschbar und aneignungsfähig machen zu können. Dieses Verständnis ist kein Naturzustand, sondern das Ergebnis einer langen zivilisatorischen Entwicklung, die durch begriffliche Verschiebungen, symbolische Setzungen und systematische Verwechslungen vorangetrieben wurde.

Entscheidend ist dabei, dass dieses Menschenbild nicht aus technischer Praxis hervorgegangen ist, sondern aus deren ideologischer Fehlübertragung. Der Kontrollwahn ist kein Produkt funktionierender Rückkopplungssysteme, sondern gerade deren Negation auf der Ebene des Ich-Bewusstseins.

Fortschritt durch Lernen: Die Logik der Technikwelt

In der technischen Welt ist Lernen nur unter einer Bedingung möglich: der Anerkennung von Rückkopplung. Technik entsteht nicht aus Allmachtsphantasien, sondern aus der systematischen Auswertung von Fehlern, Grenzen und Katastrophen. Jeder Flugzeugabsturz, jedes Materialversagen, jede Fehlkonstruktion wird bis ins Detail analysiert. Die Frage lautet nie, wer schuld ist, sondern wodurch ein System versagt hat. Fortschritt entsteht hier ausschließlich durch die Bereitschaft, sich von der Realität korrigieren zu lassen.

Diese Logik ist radikal verletzungsfähig. Technik akzeptiert Maßstäbe, Toleranzen, Minimal- und Maximalwerte, Kipppunkte. Sie weiß, dass Überschreitungen reale Konsequenzen haben. Kontrolle in der Technikwelt ist deshalb nie absolut, sondern immer bedingt, vorläufig und rückgebunden. Genau darin liegt ihre Leistungsfähigkeit. Technik lebt nicht in einer Unverletzlichkeitswelt, sondern im permanenten Abgleich mit Materialität, Physik und Zeit.

Der Bruch: Übertragung des Fortschrittsbegriffs auf das Individuum

Der entscheidende zivilisatorische Fehler entsteht dort, wo dieses rückkopplungsgebundene Fortschrittsdenken von der Technikwelt auf das Menschen- und Individuumsverständnis übertragen wird. Der Mensch beginnt, sich selbst als Urheber, Eigentümer und Kontrollzentrum des Fortschritts zu begreifen. Was technisch durch Lernprozesse, Fehleranalyse und Maßhaltung entstanden ist, wird dem Subjekt zugeschrieben: dem autonomen Individuum, der freien Entscheidung, der souveränen Vernunft.

Hier liegt der eigentliche Trick. Das Individuum eignet sich symbolisch einen Fortschritt an, den es funktional gar nicht hervorgebracht hat. Rückkopplung, Abhängigkeit und Verletzlichkeit werden ausgeblendet, während die Erfolge technisch-kollektiver Lernprozesse als Beleg für individuelle Autonomie, Freiheit und Besitzfähigkeit missverstanden werden. Aus technischer Lernfähigkeit wird menschlicher Größenwahn.

Skulptur-Identität und die Verweigerung des Lernens

Dieses neue Menschenbild ist das, was hier als Skulptur-Identität bezeichnet wird. Es lebt in einer Unverletzlichkeitswelt symbolischer Eigenschaften: Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichheit, Autonomie. Diese Begriffe werden nicht mehr als relationale, rückgekoppelte Zustände verstanden, sondern als Besitzmerkmale eines Ichs. Lernen wird dadurch strukturell unmöglich, weil Lernen Verletzbarkeit voraussetzt.

Die Skulptur-Identität kann nicht lernen, weil sie nicht scheitern darf. Fehler bedrohen nicht nur einzelne Entscheidungen, sondern das gesamte Selbstbild. Rückkopplungen werden deshalb abgewehrt, relativiert oder externalisiert. Verantwortung wird symbolisch verteilt, während reale Konsequenzen ausgelagert werden. Genau hier unterscheidet sich das Menschenverständnis fundamental von der Technikwelt: Dort ist Lernen zwingend, hier wird es verweigert.

Kunst als Warnsystem – und ihre systematische Entmachtung

Literatur, Kunst und Theater haben diese Entwicklung früh erkannt und immer wieder beschrieben. Von der antiken Tragödie über Dostojewski, Kafka, Hesse, Frisch und Dürrenmatt bis zu modernen Dystopien ist der gleiche Befund präsent: Ein Mensch, der sich für unverletzlich hält, zerstört seine eigenen Existenzbedingungen. Diese Warnungen waren nie unklar, sondern wurden systematisch neutralisiert, indem man ihnen den Status bloßer Fiktion, Unterhaltung oder subjektiver Meinung zuschrieb.

Kunst durfte warnen, aber nicht wirksam werden. Sie wurde vom Erkenntnisraum zum Symbolraum degradiert. Damit verlor sie die Fähigkeit, Rückkopplung gesellschaftlich durchzusetzen. Die Folge ist eine Zivilisation, die technisch hoch lernfähig ist, aber anthropologisch lernverweigert.

Das 1-Sekunden-Wesen gegen Milliarden Jahre Rückkopplung

Der Größenwahn des modernen Individuums zeigt sich besonders drastisch im Verhältnis zur Natur. Ein evolutionär extrem junges Wesen – gemessen in Sekunden der Erdgeschichte – erhebt den Anspruch, komplexe, über Milliarden Jahre entstandene Rückkopplungssysteme kontrollieren, optimieren oder ersetzen zu können. Diese Anmaßung wäre in der Technikwelt undenkbar, weil dort Erfahrungszeit, Materialermüdung und Langzeitfolgen ernst genommen werden.

Im Menschenbild jedoch wird diese Diskrepanz ignoriert. Fortschritt wird mit Beschleunigung verwechselt, Kontrolle mit Besitz, Freiheit mit Entkopplung. Dass natürliche Systeme sich permanent selbst überprüfen, anpassen und korrigieren, wird nicht als Vorbild, sondern als zu überwindendes Hindernis betrachtet. Der Mensch erklärt sich zum Eigentümer dessen, wovon er funktional vollständig abhängig ist.

Die eigentliche Fehlannahme: Eigentum an Kontrolle

Im Kern beruht das skulpturale Menschenverständnis auf einer falschen Eigentumsannahme. Kontrolle wird als etwas Besitzbares gedacht, obwohl sie in funktionalen Systemen niemals Besitz, sondern immer Relation ist. Technik hat das längst bewiesen: Kein Ingenieur besitzt die Physik, kein Pilot den Auftrieb, kein System die Sicherheit. Kontrolle existiert nur im Zusammenspiel vieler Faktoren und nur solange Rückkopplung akzeptiert wird.

Das Individuum hingegen glaubt, Kontrolle zu haben, gerade weil es sie nicht überprüfen muss. Diese Scheinkontrolle ist nur möglich in einer Unverletzlichkeitswelt symbolischer Setzungen. Dort können Freiheit, Autonomie und Gleichheit behauptet werden, ohne sich in realen Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen bewähren zu müssen.

Neuformulierung zentraler Begriffe durch plastisches Denken

Die Aufgabe des hier beschriebenen Gesamtprojekts besteht daher nicht in moralischer Kritik, sondern in einer radikalen Neubestimmung zentraler Begriffe. Freiheit ist nicht Unabhängigkeit, sondern Rückkopplungsfähigkeit. Gleichheit ist nicht Symmetrie, sondern gleichwertige Verletzlichkeit. Selbstständigkeit ist nicht Autonomie, sondern verantwortliche Einbindung. Fortschritt ist nicht Beschleunigung, sondern Lernfähigkeit über Zeit.

Diese Begriffe können nicht theoretisch neu definiert werden. Sie müssen praktisch erfahren werden – genau hier kommt die Kunst als operative Erkenntnisform ins Spiel. Kunst ist der einzige Bereich, in dem Verletzung, Scheitern, Maß, Kipppunkt und Rückkopplung nicht verdrängt, sondern produktiv genutzt werden.

Ergebnis: Aufklärung als Wiederanbindung an Lernfähigkeit

Der Gesamtkontext zeigt, dass das gegenwärtige Menschen- und Individuumsverständnis nicht zu viel Kontrolle hat, sondern zu wenig reale. Es verwechselt symbolische Verfügung mit funktionaler Wirksamkeit. Die Verweigerung des Lernens ist keine menschliche Eigenschaft, sondern das Ergebnis einer skulpturalen Selbstverabsolutierung.

Eine zukünftige – oder dringend gegenwärtige – Kunstgesellschaft zielt daher nicht auf mehr Wissen, mehr Macht oder mehr Technik, sondern auf die Wiederherstellung von Lernfähigkeit auf anthropologischer Ebene. Sie bindet den Menschen wieder an jene Logik zurück, die Technik erfolgreich gemacht hat: Anerkennung von Maß, Rückkopplung, Fehler und Abhängigkeit. Erst in dieser Rückbindung kann Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit neu und lebensfähig verstanden werden.