Das gestohlene Selbst: Plastizität, Eigentum und die Illusion zivilisatorischer Selbstermächtigung

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Die Idee, der Mensch sei sich selbst Eigentum, ist nicht nur das Dogma der Moderne – sie ist ihr blinder Fleck.

Was als Aufbruch zur Autonomie erscheint, offenbart sich bei genauerer Prüfung als verkleidete Fiktion einer Verfügung, die sich von ihren wirklichen Abhängigkeiten abgetrennt hat. Der Gedanke, man könne sich selbst besitzen, gründet auf einer fundamentalen epistemischen Illusion: dass der Mensch Ursprung seiner selbst sei, dass er sich aus sich heraus entwirft, formt, verfügbar macht – sei es als moralisches Subjekt, als Konsumakteur oder als transhumanistisches Projekt. Diese Selbstermächtigungsideologie ist jedoch selbst das Produkt eines tiefen Missverständnisses über die Natur des Lebendigen: Sie verwechselt Plastizität mit Selbstherrschaft, Rückbindung mit Kontrolle, und Verfügbarkeit mit Freiheit.

Was wir stattdessen benötigen, ist eine radikale Kontextualisierung des Menschen innerhalb der physikalischen Welt – nicht als Herr über sie, sondern als deren Effekt. Der Mensch ist kein autonomes Subjekt, sondern eine späte Differenzform eines kosmischen Prozesses, der seit Milliarden Jahren stattfindet. In dieser Perspektive erscheint die Vorstellung vom „Ich als Eigentum“ nicht als Fortschritt, sondern als Rückfall in eine metaphysische Privilegierung, die sich gegen die strukturelle Realität der Abhängigkeit immunisiert. Die Grundhypothese dieser Theorie lautet daher: Nicht Gleichgewicht (50:50), nicht Herrschaft (100:0), sondern plastische Spannung (51:49) ist das Grundverhältnis lebendiger Ordnung.

Diese 51:49-Differenzkraft, die minimale Asymmetrie zwischen Offenheit und Rückbindung, markiert nicht nur die funktionale Grundstruktur biologischer, sozialer und kognitiver Systeme. Sie ist auch der blinde Punkt der gängigen Zivilisationskritiken, die sich zumeist selbst in asymmetrischen, unausgewogenen Denkmustern bewegen – ohne sich ihrer eigenen epistemischen Position bewusst zu sein.

Jürgen Habermas etwa postuliert mit seinem Konzept kommunikativer Vernunft ein Ideal gleichberechtigter Diskursteilnahme. Doch die Idee eines herrschaftsfreien Diskurses bleibt letztlich in der Fiktion eines ausgeglichenen 50:50-Verhältnisses stecken – ein Verhältnis, das in keiner sozialen Realität existiert. Habermas' Modell verkennt die systemische Notwendigkeit produktiver Differenz: Es neutralisiert Konflikt, statt ihn plastisch zu halten. Seine Theorie der deliberativen Demokratie geht von Voraussetzungen aus, die durch soziale Ungleichheiten, kulturelle Codierungen und strukturelle Machtverhältnisse permanent untergraben werden – und daher normativ zwar elegant, aber empirisch dysfunktional bleiben.

Michel Foucault, als entschiedener Kritiker solcher Normativität, dekonstruiert Machtbeziehungen in all ihren Dispositiven, aber seine Analysen bleiben zumeist auf der Ebene der genealogischen Beschreibung. Die Frage, was jenseits der Macht liegt, wird nur performativ beantwortet: durch die Praxis der Kritik selbst. Damit bleibt Foucaults Theorie in der Geste der Entlarvung stecken – ohne sich einem plastischen Umbau von Strukturen zuzuwenden. Seine „immanente Normativität“ bleibt uneingelöst, weil sie keinen regulativen Maßstab kennt, der Differenz produktiv halten könnte. Auch er fehlt das 51:49-Prinzip als operative Struktur: Seine Machtkonzeption ist flach, nicht rhythmisch; sie dekonstruiert, aber sie rekonstruiert nicht.

Peter Sloterdijk hingegen setzt am plastischen Menschen an – als Übender, als Selbstformender, als Homo repetitivus. Doch sein Fokus auf anthropotechnische Selbststeigerung verfehlt die systemische Einbindung des Menschen in größere funktionale Ordnungen. Seine „Anthropologie der Übung“ bleibt ein Modell der Einzelpraxis. Gesellschaft erscheint bei ihm nicht als plastisches Kalibrierungsfeld, sondern als Bühnenraum für individuelle Transformation. Die 51:49-Differenz bleibt bei Sloterdijk individualisiert – sie wird nicht kollektiv operationalisiert, sondern moralisch-introspektiv personalisiert.

Yuval Harari schließlich erzählt von der Zukunft des Homo Deus – zwischen Algorithmus, Gentechnik und neuronaler Simulation. Seine Thesen sind spektakulär, aber epistemisch schmal. Harari entwirft zivilisatorische Entwicklungen als Fortschrittsnarrative, ohne systemische Rückkopplung zu denken. Die Welt erscheint bei ihm als Bühne für datengetriebene Evolution – nicht als plastisches System asymmetrischer Rückbindung. Er bleibt im „storytelling“, wo Analyse nötig wäre, und verkennt das Maß des Maßes: nämlich die Fragilität funktionaler Asymmetrie als Lebensbedingung.

Alle genannten Positionen teilen in ihrer Differenz eine gemeinsame Schwäche: Sie reflektieren nicht ihre eigene strukturelle Einseitigkeit. Mal idealisieren sie Gleichheit, mal entfalten sie Macht als Immanenz, mal ästhetisieren sie die Selbstformung oder futurisieren den Menschen als datenbasiertes Projekt. Aber keiner dieser Ansätze kennt ein Denken der plastischen Übergänge – der membranischen Spannungszonen, in denen Systeme weder vollständig stabil noch chaotisch sind, sondern in einem dynamischen Verhältnis der Kalibrierung stehen.

Hier setzt die 51:49-Theorie an: Sie versteht Realität nicht als Totalität oder als Diskursfeld, sondern als plastisches Membransystem. Jede Ebene – ob physikalisch, biologisch, sozial oder rechtlich – ist durchzogen von asymmetrischer Rückkopplung. Nicht das Gleichgewicht hält Systeme funktional, sondern der kontrollierte Ungleichstand. Nicht Konsens ist das Ziel, sondern eine verletzliche Form der Balance, die durch fortwährende Differenzregulation lebt.

Der Mensch – in dieser Perspektive – ist nicht Eigentümer seiner selbst, sondern plastischer Vollzugsraum eines Maßes, das älter ist als jede Idee. Eigentum ist hier keine Ontologie, sondern ein juristischer Irrtum, wenn es auf den Menschen selbst angewandt wird. Er besitzt sich nicht. Er ist – und das im Kontext einer Welt, die ihn hervorgebracht hat, ohne ihn zu brauchen.

Die Konsequenz ist kein Nihilismus, sondern ein plastisches Realismusethos: Verantwortung entsteht nicht aus Verfügung, sondern aus Verwobenheit. Freiheit ist nicht die Verfügung über sich selbst, sondern die Gestaltung innerhalb der Abhängigkeiten, die man nicht aufheben kann. Menschsein bedeutet nicht Selbstermächtigung, sondern Mitvollzug eines Ordnungsgefüges, das nicht im Subjekt seinen Ursprung hat, sondern im Maß der Welt.

Wer also von Zivilisationskritik sprechen will, muss tiefer ansetzen als bei Norm, Diskurs, Selbstformung oder kybernetischer Vorhersage. Er muss ansetzen bei der Differenzkraft, die Leben ermöglicht – in jeder Membran, jeder Entscheidung, jeder Beziehung. Und er muss den Mut haben, das Ich nicht als Zentrum, sondern als Effekt zu begreifen.

Nur dort beginnt wahre Zivilisationskritik: im Rückbau der Ich-Illusion – und im Aufbau plastischer Formen, in denen Verletzlichkeit nicht Schwäche, sondern Bedingung für Ordnung ist.