Das richtige Maß – Leitbild des plastischen Menschen

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Bevor das Maß durch Zahl ersetzt, die Klugheit durch Kalkül verdrängt und das Gemeinsame durch das Individuelle isoliert wurde, war Erkenntnis eingebunden in eine Kultur der situativen Angemessenheit.

In jener vormodernen Ordnung war Metis nicht Mythos, sondern Praxis: eine Intelligenz, die nicht auf Prinzipien beruhte, sondern auf Anpassung. Sie war das verkörperte Wissen des Richtigen im Falschen Moment, das instinktive Taktgefühl für komplexe Situationen, das Durchkommen, wo Systeme versagen. Metis war das Maß, bevor das Maß zur Norm wurde.

In dieser Tradition war auch Techne nicht bloß „Technik“, sondern ein leibliches Können, das Welt im Tun formt. Sie war plastisch – eine Form der Erkenntnis, die nicht vom Begriff ausging, sondern vom Material. Der Töpfer, die Hebamme, der Seiltänzer – sie alle lebten ein Wissen, das sich nicht ableiten ließ, sondern entstand im Verhältnis. Sie konnten Maß halten, weil sie getragen waren von einer Welt, die Rückwirkung kannte. Wer Techne übte, wusste: Was nicht trägt, fällt. Und was nicht passt, bricht.

Dieses Maß war kein Privatbesitz. Es wurde geteilt, eingeübt, vermittelt – in Ritualen, im Gemeinleben, im Gemeinsinn. Die Polis – das soziale Feld geteilter Erfahrung – war der Resonanzraum, in dem Maß zur Realität wurde. Der Mensch war kein autonomes Projekt, sondern ein Maßnehmender im Austausch. Nicht als Schwäche, sondern als Bedingung des Überlebens.

Das 51:49-Prinzip rekonstruiert dieses Maß als dynamisches Verhältnis: kein Gleichgewicht im Sinne symmetrischer Verteilung, sondern eine plastische Neigung – gerade so viel Ungleichgewicht, dass Bewegung entsteht, aber nicht Zerstörung. In diesem Sinn wird der plastische Mensch nicht durch Vollkommenheit definiert, sondern durch ein Gespür für funktionale Stimmigkeit: für das, was „gerade noch trägt“, für das, was „nicht zu viel“ ist, aber auch nicht zu wenig. Dieses Maß ist kein Zahlenwert, sondern eine Lebenskunst.

Die moderne Welt hat diesen Maßsinn weitgehend verloren. Sie ersetzt Metis durch Statistik, Techne durch Automatisierung, Gemeinsinn durch Nutzerverhalten. Maß wird algorithmisch berechnet, nicht leiblich ertastet. Doch ein System, das Maß nur simuliert, verliert seine Balance. Es kennt keine Korrektur mehr – weil es keine Rückmeldung mehr zulässt.

Der plastische Mensch dagegen ist rückmeldungsfähig. Er lebt nicht in der Idee, sondern im Verhältnis. Seine Stärke ist nicht Unverletzlichkeit, sondern die Fähigkeit, auf Verletzung zu antworten. Maß bedeutet für ihn nicht Kontrolle, sondern Resonanz. Kein Abbild der Welt, sondern ein Einfügen in ihr Werden. Keine Regel, sondern ein lebendiger Rhythmus.

Nur wer Metis wieder zulässt, kann Maß erkennen. Nur wer Techne übt, kann Welt gestalten. Nur wer Gemeinsinn erfährt, kann tragfähige Formen leben. Der plastische Mensch ist nicht das Ziel einer Optimierung, sondern der Anfang eines Anderen: eines Weltverhältnisses, das nicht von Idealbildern ausgeht, sondern von der kleinsten Differenz, die noch trägt.

51:49 – das ist nicht die Formel der Perfektion, sondern des Gelingens. Wer Maß hält, lebt. Wer es verliert, idealisiert – und scheitert.