Das zweite Ich-Bewusstsein: Plastisches, rückgekoppeltes Geistverständnis
Dem skulpturalen Ich-Bewusstsein steht ein zweites Geistverständnis gegenüber, das sich nicht über Eigenschaften, sondern über Vollzug organisiert. Dieses Ich ist nicht unverletzlich, sondern prinzipiell exponiert. Es existiert nicht als fertige Form, sondern als plastischer Prozess innerhalb von Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen. Denken ist hier nicht primär Repräsentation, sondern Beteiligung.
Dieses plastische Ich unterscheidet strukturell zwischen symbolischen Konstrukten und realen Wirkzusammenhängen. Symbole werden als Werkzeuge verstanden, nicht als Wirklichkeit selbst. Entscheidungen entstehen nicht aus dem kürzesten Weg zum Ziel, sondern aus der Wahrnehmung von Rückkopplungen, Widerständen und Nebenfolgen. Dieses Geistverständnis ist langsamer, verletzlicher und weniger effizient, dafür jedoch lebensfähig.
Verletzung ist hier keine Ausnahme, sondern Erkenntnismodus. Irritation, Scheitern, Widerstand und Abhängigkeit liefern Information. Das Ich ist nicht getrennt von den Konsequenzen seines Handelns, sondern in sie eingebunden. Dadurch entsteht eine andere Form von Verantwortung, die nicht moralisch postuliert, sondern funktional notwendig ist.
Zwei Geistlogiken im selben Menschen
Entscheidend ist, dass diese beiden Ich- und Geistverständnisse nicht zwei Arten von Menschen bezeichnen. Sie sind zwei Organisationslogiken, die im selben Individuum wirksam sein können. Das skulpturale Ich dominiert in symbolischen Systemen wie Wirtschaft, Recht, Verwaltung und digitaler Kommunikation. Das plastische Ich tritt hervor in leiblicher Erfahrung, Beziehung, Sorge, Krankheit, Kreativität und realem Zusammenwirken.
Die gegenwärtige Krise lässt sich vor diesem Hintergrund als Dominanz eines unverletzlichen Ich-Bewusstseins verstehen, das seine eigene Rückkopplungsabhängigkeit systematisch ausblendet. Das zweite Ich-Bewusstsein ist nicht verschwunden, aber marginalisiert. Es wird oft als irrational, ineffizient oder subjektiv abgewertet, obwohl es die eigentliche Bedingung von Lebensfähigkeit darstellt.
Ergebnis
Die Übertragung auf zwei Ich- und Geistverständnisse verdeutlicht den Kern des Problems: Nicht der Mensch an sich, sondern die dominante Organisationsform des Ichs entscheidet über Existenzfähigkeit. Ein Ich-Bewusstsein, das sich ausschließlich in der Unverletzlichkeitswelt symbolischer Eigenschaften bewegt, verliert den Kontakt zu Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen. Ein plastisches Ich-Bewusstsein hingegen lebt in der Verletzlichkeitswelt realer Rückkopplung und ist dadurch nicht sicherer, aber tragfähig.
Damit wird deutlich, warum ein zweites Geistverständnis notwendig ist: nicht als Ergänzung, sondern als Korrektiv. Es ist die Voraussetzung dafür, dass Denken wieder an Leben rückgebunden wird und Entscheidungen nicht nur logisch konsistent, sondern existenziell verantwortbar sind.
