Der Mensch als membranisches Wesen-Verletzbarkeit als Erkenntnisvoraussetzung-Handlung als Rückkopplung – nicht Kontrolle

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Kapitel 6: Bewusstseinsplastizität – Die ethische Dimension des Denkens

Erkenntnis als Formgeschehen im Spannungsfeld von Verletzbarkeit und Resonanz

In der klassischen Erkenntnistheorie wird das Bewusstsein häufig als neutrale, urteilende Instanz begriffen – als Ort geistiger Klarheit, von dem aus Welt beobachtet, benannt und beherrscht werden kann. Diese Vorstellung ist nicht nur epistemologisch, sondern auch ethisch problematisch: Sie stabilisiert die Illusion eines souveränen Subjekts, das seiner Umwelt strukturell überlegen ist, weil es sich von ihr zu distanzieren vermag. Gegen diese Denkfigur stellt sich der Begriff der Bewusstseinsplastizität: Erkenntnis ist nicht die Leistung eines abgeschlossenen Subjekts, sondern das Ergebnis einer Rückkopplung zwischen Welt und Leib – ein offenes, verletzliches Geschehen, das nur im Kontakt mit Widerstand Form gewinnt.

Der Mensch als membranisches Wesen

Zentral ist die Vorstellung des Menschen nicht als „Ich-Zentrum“, sondern als membranisches Wesen – als Struktur, die nicht durch Abgrenzung, sondern durch Durchlässigkeit existiert. Diese Membran – leiblich, psychisch, kulturell – markiert keinen Schutzraum, sondern einen Kontaktbereich: Sie ist Ort der Auseinandersetzung, der Störung, der Rückwirkung. In der Biologie beschreibt die Zellmembran nicht bloß eine Grenze, sondern einen Ort des Austauschs – osmotisch, energetisch, elektrisch. Analog dazu ist auch Bewusstsein keine Innenwelt, sondern eine regulierende Schnittstelle im Austauschfeld von Wahrnehmung, Bewegung und Umwelt. Der Mensch erkennt nicht „in sich“, sondern im oszillierenden Kontakt mit Welt. Daraus folgt: Erkenntnis ist nicht abgeschlossen, sondern durchlässig, reversibel und prozessual – sie hat eine Form, aber keine Formvollendung.

Verletzbarkeit als Erkenntnisvoraussetzung

Wenn Erkenntnis im plastischen Verhältnis geschieht, dann ist Verletzbarkeit nicht pathologischer Nebeneffekt, sondern konstitutive Bedingung. Nur wer berührt werden kann, kann erkennen. Die klassische Idee der Unverletzbarkeit des Denkens – seine Reinheit, Objektivität, Unbeeinflussbarkeit – erweist sich hier als erkenntniskritische Illusion. Ein Denken, das sich nicht berühren lässt, ist nicht frei, sondern taub. Verletzbarkeit bedeutet: offen sein für Rückmeldung, betroffen sein von Wirkung, verantwortlich sein für Konsequenz. Damit wird Erkenntnis immer auch ethisch – nicht weil sie moralische Normen reflektiert, sondern weil sie auf einer grundsätzlichen Rückbezüglichkeit beruht: Wer erkennt, greift ein – und ist damit in das Veränderte involviert. Denken ist nie neutral. Es ist – im ursprünglichen Sinne des Wortes – ein Handeln im Kontaktfeld, ein Eingriff in Relation.

Handlung als Rückkopplung – nicht Kontrolle

In dieser Perspektive verschiebt sich der Begriff von Handlung fundamental. Er bedeutet nicht mehr: Kontrolle über einen Gegenstand, sondern: Antwort auf eine Welt, die antwortet. Rückkopplung wird damit zur zentralen Denkfigur plastischer Erkenntnis: Jede Handlung erzeugt eine Wirkung – aber nicht eine lineare, planbare, sondern eine, die zurückwirkt, verschiebt, herausfordert. Wer plastisch denkt, plant nicht in Idealen, sondern formt im Widerstand. Das Verhältnis 51:49 – als Leitbild asymmetrischer Stabilität – steht hier paradigmatisch für eine Ethik der Form: kein Gleichmaß, kein Ausgleich, keine Norm – sondern ein fragiles Verhältnis, das Bewegung erlaubt, ohne ins Chaos zu kippen.

Handlung ist daher weder performative Selbstverwirklichung noch kontrolliertes Zielhandeln, sondern ein ethischer Akt plastischer Beteiligung: in Beziehung treten, Form zulassen, Verantwortung annehmen. Es geht nicht darum, Wirklichkeit zu besitzen oder zu beherrschen, sondern sie so zu formen, dass ihre Rückmeldung nicht zerstört, sondern verstanden wird.


Übergang zur nächsten Sektion

Im Anschluss an die Bewusstseinsplastizität – als ethisch fundierte Gegenfigur zur kognitiven Autonomie – wird im nächsten Kapitel das Verhältnis von Erkenntnis, Kunst und Zeugenschaft entfaltet. Dort zeigt sich, wie plastisches Denken nicht nur philosophisch, sondern auch künstlerisch zur Geltung kommt – in Formprozessen, die nicht das Objekt, sondern die Beziehung bezeugen.