Die Kunstgesellschaft als ursprüngliches und zukünftiges Ordnungsmodell: Techne, Gemeinsinn und plastische Identität

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Das Modell einer zukünftigen – oder dringlich gegenwärtig erforderlichen – Kunstgesellschaft ist kein modernes Gedankenkonstrukt, sondern historisch bereits angelegt. Vor etwa 2500 Jahren entstand im griechischen Denken ein gesellschaftliches Ordnungsmodell, aus dem sich später die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen ausdifferenzierten. Dieses Modell war kein Spezialistentum, sondern eine umfassende Lebensform, die im Begriff der Technē gebündelt war. Technē bezeichnete nicht Technik im heutigen Sinn, sondern ein tätiges Können, das Wissen, Handeln, Verantwortung und Maß miteinander verband. Wissenschaft, Kunst, Politik und Ethik waren nicht getrennt, sondern Ausdruck desselben gemeinsinnigen Übens.

Im Zentrum dieser Ordnung stand nicht die unverletzliche Form, sondern das rechte Maß (metron), verstanden als dynamisches Verhältnis. Dieses Maß entsprach einer plastischen Logik, die sich mit dem hier beschriebenen 51:49-Verständnis vergleichen lässt: Stabilität entstand aus fortwährender Übung, Korrektur und Rückkopplung, nicht aus symmetrischer Fixierung. Das rechte Maß war kein abstrakter Wert, sondern ein situatives Gespür, das im Tun geschult wurde – im Theater, auf der Agora, in der Polis als Ganzem.

Besonders deutlich wird dies im griechischen Theater. Die Begriffe Theoria und Praxis hatten dort eine andere Bedeutung als heute. Theoria war kein distanziertes Beobachten, sondern ein teilnehmendes Anschauen, ein Einbezogensein in das Geschehen. Praxis war kein bloßes Ausführen, sondern verantwortetes Handeln im öffentlichen Raum. Die Maske (prosōpon, später persona) war kein Verstecken, sondern ein Resonanzkörper, durch den Stimme, Rolle und Gemeinschaft hindurchsprachen. Theater war eine kollektive Schulung des Wahrnehmungs- und Verantwortungsvermögens, kein symbolischer Ersatzraum ohne Konsequenz.

Demgegenüber bezeichnete der Begriff idiōtēs im antiken Griechenland nicht Unwissenheit im heutigen Sinn, sondern den Rückzug ins Private. Der idiōtēs entzog sich dem Gemeinsinn der Polis und entzog damit der Gemeinschaft seine Mitwirkung. Diese Haltung wurde als eine Form des Diebstahls an der Gemeinschaft verstanden. Entscheidend ist, dass hier bereits eine frühe Kritik an einer skulpturalen Identität formuliert ist: an einem Ich-Verständnis, das sich als abgeschlossen, privat und unverletzlich setzt und seine Abhängigkeit vom Gemeinsamen verleugnet.

Im Verlauf der Geschichte verschob sich dieses plastische Maß zunehmend in Richtung eines symmetrischen Denkens. Aus dem dynamischen metron wurde ein abstraktes Gleichheitsideal, aus 51:49 ein 50:50. Damit begann die Dominanz einer skulpturalen Identität, die Form, Eigenschaften und Gleichgewicht fixierte und Rückkopplung zunehmend ausblendete. Wissenschaften trennten sich von der Kunst, Theorie von Praxis, Symbolwelten von Stoffwechsel und Kosmos. Das ursprünglich kosmische Denken, in dem Mensch, Natur und Ordnung ungetrennt gedacht wurden, zerfiel in isolierte Abstraktionen.

Die hier entworfene Kunstgesellschaft knüpft bewusst an dieses frühere Modell an, ohne es nostalgisch zu reproduzieren. Sie versteht Kunst nicht als Sektor neben anderen, sondern als übergreifende Organisationsform des Lebens. Kunst wird hier zum Trainingsraum für ein plastisches Ich-Bewusstsein, das in Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen lebt und diese wahrnimmt. Der Mensch ist Resonanzkörper, nicht Träger fixer Eigenschaften. Wahrheit entsteht nicht aus symbolischer Setzung, sondern aus Bewährung im gemeinsamen Vollzug.

In einer solchen Kunstgesellschaft werden die zwei bislang konkurrierenden Organisationslogiken – skulpturale Unverletzlichkeit und plastische Verletzlichkeit – nicht länger getrennt oder gegeneinander ausgespielt. Durch künstlerische Praxis werden sie sichtbar gemacht, erfahrbar und schließlich aufgelöst. Nicht indem Symbolwelten abgeschafft werden, sondern indem sie wieder als Werkzeuge erkannt werden, die dem Leben dienen und nicht umgekehrt. Übrig bleibt eine einzige Organisationsform: Kunst als Form des Lebens selbst.

Damit schließt sich der Kreis zu den zuvor behandelten literarischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Die bei Hesse, Frisch, Dürrenmatt, Kafka, Musil oder in utopischen und wissenschaftlichen Modellen beschriebenen Identitätskrisen erscheinen nun nicht mehr als individuelle Tragödien, sondern als Symptome eines historischen Bruchs: der Trennung von Kunst, Wissen und Leben. Die Kunstgesellschaft, verstanden als Heits-Gesellschaft im Sinne eines gelebten Tätigseins, bietet keinen utopischen Endzustand, sondern eine kontinuierliche Praxis des Maßhaltens, der Rückkopplung und des Gemeinsinns. Sie ist kein Ziel, sondern ein permanenter Vollzug – genau darin liegt ihre Lebensfähigkeit.