Disziplinäre Maßverluste und epistemische Erstarrung
Kapitel 8: Bildung, Recht, Politik – Disziplinäre Maßverluste und epistemische Erstarrung
Zwischen Formzwang und Kontrollregime
Die zentralen gesellschaftlichen Dispositive moderner Gesellschaft – Bildung, Recht, Politik und Medizin – stehen in einem fundamentalen Spannungsverhältnis zwischen normativem Anspruch und realem Maßverlust. Was als Ordnung, Sicherheit oder Gerechtigkeit behauptet wird, ist in vielen Fällen Ausdruck einer strukturellen Erstarrung: nicht Maß im Widerstand, sondern Formzwang ohne Rückmeldung. Der hier entwickelte Begriff plastischer Erkenntnis – verstanden als Maßbildung in Rückkopplung, Relation und Verantwortung – erlaubt es, diese Institutionen nicht bloß funktional, sondern epistemologisch-ethisch zu kritisieren: als Symptome einer kulturellen Unfähigkeit, Maß aus Beziehung zu gewinnen.
Bildung: Von Entfaltung zur Disziplinierung
Das moderne Bildungssystem gilt vielfach als Inbegriff von Aufklärung und Emanzipation. Doch tatsächlich beruht es auf einem normativen Maßmodell, das Plastizität durch Standardisierung ersetzt. Bildungsprozesse, die ursprünglich ein offenes Verhältnis zwischen Welt, Leib, Sprache und Handlung ermöglichten, sind zunehmend in technische Reproduktion, Qualifikation und Messbarkeit überführt worden. Nicht Entwicklung, sondern Anpassung wird gefördert. Die Form, die hier gelehrt wird, ist nicht widerständig, sondern normativ geglättet: Das Idealmaß der 50:50-Symmetrie – Gleichbehandlung, Chancengleichheit, Standardnorm – verdrängt das lebendige Maß der 51:49-Relation, das Differenz, Asymmetrie und Rückmeldung ernstnimmt.
Bildung verliert dadurch ihren Erkenntnischarakter. Sie wird nicht mehr als Formarbeit im Widerstand verstanden, sondern als Reproduktion von Wissen ohne Weltkontakt. Der Lernende wird nicht zum plastischen Subjekt, sondern zum Requisit einer symbolischen Ordnung, das Wissen „besitzt“, aber nicht erprobt.
Recht: Ordnung ohne Rückwirkung
Auch das Rechtssystem ist geprägt von einer tiefen Maßverwirrung. Während es historisch als Medium des Ausgleichs, der Relationalität und der gemeinsamen Urteilsbildung entstand – etwa im griechischen díkē oder im germanischen thing –, ist das moderne Recht primär ein System von Normen, das ex negativo funktioniert: Es definiert nicht, was gerecht ist, sondern was verboten oder erlaubt ist. Der Maßstab ist externalisiert – nicht im Widerstand erfahrbar, sondern kodifiziert. Damit verliert das Recht seine plastische Dimension: Es stellt Ordnung her, ohne deren ethische Rückwirkung zu reflektieren.
Zudem wird Recht häufig zur Legitimationsinstanz von Machtverhältnissen, nicht zu deren Korrektiv. Was rechtlich zulässig ist, ist nicht notwendigerweise maßvoll oder gerecht. Die Logik der dingfesten Setzung (siehe vorheriges Kapitel) ersetzt die lebendige Auseinandersetzung mit Situation, Kontext und Resonanz. In der Sprache des Ausschlussverfahrens: Das moderne Recht verfehlt Maßbildung, weil es Beziehung durch Regel ersetzt.
Politik: Repräsentation statt Verhältnis
In der politischen Sphäre kulminiert die epistemische Erstarrung in einer Krise des Verhältnisses. Anstelle einer dialogischen Praxis des Aushandelns tritt eine symbolische Repräsentationslogik, die Politik zur Bühne macht – nicht zur plastischen Formbildung. Der Bürger wird nicht als plastisches Maßwesen adressiert, sondern als Repräsentierter: als Objekt von Meinungsumfragen, Wählerstimmen, demografischen Profilen. Die politische Form ist entkoppelt vom Widerstand der Wirklichkeit. Politik verliert dadurch ihre ursprüngliche Dimension als res publica, als gemeinsame Sache im Widerstandsfeld pluraler Interessen.
Besonders sichtbar wird dies in der Sprache politischer Kommunikation: Sie arbeitet mit leeren Signifikanten – Freiheit, Sicherheit, Identität –, die dingfest gemacht wurden, ohne auf ein konkretes Maß zu verweisen. Die ethische Dimension von Maßbildung – das Aushalten von Ambivalenz, das Tasten nach situativer Angemessenheit – wird durch Programmatik und Ideologie ersetzt.
Medizin: Heilkunst ohne Techne
Auch das medizinische System – historisch ein Paradebeispiel techne-basierter Maßarbeit – hat seine plastische Basis weitgehend verloren. An die Stelle ärztlicher Urteilskraft im Verhältnis zum konkreten, vulnerablen Körper tritt eine Logik von Diagnosekatalogen, Standardtherapien und Evidenzhierarchien. Der Patient wird zum Objekt des Systems, nicht zum Widerstandspartner im Heilprozess. Maßbildung wird durch Messbarkeit ersetzt, Techne durch Technik. Was hier verlorengeht, ist die ethische Dimension von Heilung: das situative Maß im Umgang mit individueller Verletzlichkeit.
Die Folge ist eine Rückwirkungslosigkeit des Systems: Was medizinisch korrekt ist, kann individuell übergriffig sein; was nach Leitlinie geboten ist, kann im Verhältnis falsch sein. Die plastische Spannung zwischen Wissen, Handlung und Situation – das, was Hippokrates als Kern ärztlicher Techne bezeichnete – wird systematisch unterdrückt.
Fazit: Systemische Maßverluste als epistemische Deformation
Alle genannten Institutionen – Bildung, Recht, Politik, Medizin – zeigen strukturell denselben Verlust: Sie operieren nicht mehr im plastischen Verhältnis, sondern in symbolischen Substitutionen, die Rückmeldung ausschließen. Statt Form im Widerstand zu erzeugen, verfestigen sie Struktur durch Wiederholung. Das ethische Problem dieser Maßverluste ist nicht bloß ein Mangel an Empathie oder Gerechtigkeit, sondern ein fundamentales epistemisches Versagen: Erkenntnis wird ersetzt durch Kontrolle; Beziehung durch Repräsentation; Maßbildung durch Normvollzug.
Die Konsequenz ist eine systemische Unfähigkeit, auf Veränderung, Irritation, Widerstand sinnvoll zu reagieren. Statt sich zu beugen, bricht das System – oder zwingt andere dazu, sich zu beugen. Die plastische Erkenntnislehre antwortet darauf nicht mit Reform, sondern mit einem grundlegenden Wechsel der Bezugslogik: Maß entsteht nicht durch Definition, sondern durch Rückkopplung; Ordnung nicht durch Festlegung, sondern durch Verhältnis.