Einleitung: Vom Kopf in den Fuß –Berührung als Anfang
Einleitung: Vom Kopf in den Fuß – Berührung als Anfang: Anthropologie der Berührung – Ein Theoriemodell zur Weltbeziehung in künstlerischer, physikalischer und ethischer Perspektive
In einer langen kulturellen Tradition wurde das Denken dem Kopf zugeordnet, die Erkenntnis mit Abstraktion gleichgesetzt und das Verhältnis zur Welt über Sprache, Symbol und Vorstellung definiert. Der Mensch galt als das denkende Wesen, das sich von der Welt durch Reflexionsfähigkeit, Begrifflichkeit und Vorstellungskraft abhebt. Doch dieser Vorrang des kognitiven Zugriffs hat eine folgenschwere Entkoppelung hervorgebracht: Die Welt wird immer häufiger als Darstellung, als Modell, als Repräsentation verstanden – nicht mehr als erfahrbarer Widerstand, als stoffliches Gegenüber oder als konkreter Beziehungskörper.
Das vorliegende Projekt setzt genau an dieser Grenze an und schlägt eine anthropologische Umkehrung vor: Denken beginnt nicht im Kopf, sondern in der Berührung. Der erste Weltbezug des Menschen ist nicht die Idee, sondern der Druck. Es ist der Fuß, der die Erde spürt, das Gewicht, das verlagert wird, die Haut, die Temperatur wahrnimmt – bevor irgendeine Form von Symbolisierung einsetzt. In diesem Sinne ist die Berührung kein metaphorischer Begriff, sondern ein physikalisch beschreibbarer Zustand: Eine Stelle auf der Weltoberfläche verändert sich durch den Kontakt mit einem menschlichen Körper. Genau hier beginnt Weltbeziehung – nicht als Bild, sondern als Wirkung.
Diese Perspektive führt zu einem grundlegenden Perspektivwechsel in der Anthropologie: Der Mensch wird nicht mehr primär als Repräsentant eines „höheren“ kognitiven Apparates beschrieben, sondern als Funktionsträger eines leiblichen Systems, das in einem komplexen stofflichen Austausch mit seiner Umwelt steht. Er atmet, verdaut, schwitzt, spürt – lange bevor er spricht oder denkt. Diese Prozesse sind keine Nebenfunktionen des Denkens, sondern ihre Voraussetzung. Der Mensch ist in die physikalische Welt eingebettet, durchdrungen von Abhängigkeiten, Teil eines thermodynamischen Systems, das auf Austausch, Differenz und Rückkopplung basiert.
Daraus folgt: Jeder Akt des Denkens, jedes Bild, jede symbolische Ordnung hat ihre Entstehungsbedingung in einem körperlichen Kontaktverhältnis. Die Vorstellung, man könne Welt allein durch Beobachtung oder Repräsentation erfassen, ist eine kulturelle Konstruktion, die zunehmend an ihre Grenzen gerät. Wenn die Berührung fehlt, entsteht nicht Weltlosigkeit, sondern Orientierungslosigkeit. Der Mensch verliert sein Maß, seine Rückbindung an den Stoff, an das Maß zwischen Widerstand und Handlung.
Die hier vorgeschlagene Konzeption einer Anthropologie der Berührung geht deshalb über die klassische Dualität von Körper und Geist hinaus. Sie erkennt im körperlichen Weltbezug nicht nur die Basis für individuelles Erleben, sondern auch die strukturelle Voraussetzung für kulturelle, künstlerische und gesellschaftliche Formgebung. Der Fuß ersetzt in diesem Modell nicht den Kopf – aber er ordnet ihn neu ein. Er ist kein Gegenprinzip, sondern der Anfang jeder Orientierung.
Die Berührung wird somit zur zentralen Prüfgröße: Nicht nur für künstlerische Arbeit, sondern für das Verhältnis des Menschen zur Welt überhaupt. Ob in der bildnerischen Praxis, in der ein Spaten die Erde berührt, oder in der darstellerischen Praxis, in der ein Schauspieler auf der Bühne den Raum mit Stimme und Bewegung erfüllt – immer steht am Anfang ein physischer Kontakt. Und nur dort, wo dieser nicht verleugnet, sondern ernst genommen wird, kann Verantwortung entstehen.
Die Einleitung in dieses Projekt ist daher keine theoretische Vorbemerkung, sondern eine methodische Setzung: Wer verstehen will, was Weltbeziehung heute bedeuten kann, muss den Fuß wieder als epistemisches Organ begreifen. Nicht nur im symbolischen Sinn – sondern ganz wörtlich: als Ort der Erdung, der Reaktion, der Rückmeldung.
Diese Anthropologie beginnt nicht mit dem Satz „Ich denke, also bin ich“, sondern mit der Erfahrung: „Ich stehe. Ich drücke. Ich verändere.“ Erst daraus entsteht alles Weitere.