Entwirklichung durch Sprache – Warum Begriffe keine Wirklichkeit abbilden

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Was wir für wirklich halten, ist selten das, was uns unmittelbar begegnet.

In dem Moment, in dem wir etwas benennen, beginnen wir es zu ordnen, zu fixieren, ihm eine Form zu geben, die es in der Erfahrung selbst nicht besitzt. Sprache strukturiert – aber sie entzieht zugleich dem Wahrgenommenen seine offene Gestalt. Sie verwandelt Beziehung in Ding, Bewegung in Zustand, Wahrnehmung in Begriff.

Begriffe wie „Realität“, „Ich“, „Geist“, „Körper“ oder „Leben“ gelten in unserer Kultur als selbstverständlich – doch ihre Bedeutung ist nicht gegeben, sondern gemacht. Sie beruhen nicht auf Anschauung, sondern auf kulturellen Übereinkünften, theoretischen Konstruktionen, symbolischen Ablagerungen. In ihrer Verwendung tun sie so, als würden sie etwas beschreiben, was „an sich“ existiert – tatsächlich erzeugen sie erst, was sie zu beschreiben vorgeben.

Damit entsteht eine doppelte Täuschung: Erstens wird angenommen, dass es eine Welt gäbe, die sich unabhängig von uns in Begriffen darstellen lässt. Zweitens wird übersehen, dass diese Darstellung nicht neutral ist, sondern Wirklichkeit selbst formt – nicht als passives Abbild, sondern als aktive Setzung. Sprache ist kein Fenster zur Welt, sondern ein Werkzeug der Weltformung – mit Folgen für unser Selbstbild, unser Denken und unser Handeln.

So wird das „Ich“ zu einer stabilen Einheit erklärt, obwohl es sich in der Erfahrung ständig verändert. Der „Körper“ wird als Objekt begriffen, obwohl er leiblich gespürt wird. „Leben“ erscheint als fest umrissene Kategorie, obwohl es sich jeder eindeutigen Definition entzieht. Und „Wirklichkeit“ wird als objektive Gegebenheit behandelt, obwohl sie wesentlich vom Verhältnis zwischen Wahrnehmung, Erwartung und sprachlicher Rahmung abhängt.

Diese begriffliche Erstarrung ist nicht zufällig. Sie hat eine Geschichte – eine Geschichte der Abstraktion, der Ordnung, der symbolischen Stabilisierung. In ihr spiegelt sich der Versuch, Unsicherheit zu vermeiden, Unschärfe zu regulieren, das Offene zu schließen. Doch in Wahrheit entsteht dabei ein Verlust: Die Entwirklichung der Welt durch Sprache ist der Preis einer scheinbaren Sicherheit im Denken.

Dieses Kapitel widmet sich der Frage, wie Begriffe Wirklichkeit nicht nur erfassen, sondern zugleich verdecken, verformen, verschieben.

Es fragt nach dem Verhältnis von Sprache, Macht und Erkenntnis – und nach der Möglichkeit, jenseits des Beherrschens eine Form des Sprechens und Denkens zu entwickeln, die dem Offenen, Prozesshaften und Verletzlichen gerecht wird.