Erweiterung des literarischen Befundes: Homo faber und Dürrenmatts Physiker

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Mit Homo faber (1957) von Max Frisch und Die Physiker (1962) von Friedrich Dürrenmatt treten zwei zentrale Werke hinzu, die den bereits beschriebenen Grundkonflikt zwischen symbolisch-technischer Selbstsetzung und realer Rückkopplung mit besonderer Schärfe ausarbeiten. Beide Texte analysieren eine Existenzform, die sich über Rationalität, Kontrolle, Planung und Autonomie definiert und gerade dadurch ihre eigenen Lebens- und Existenzbedingungen zerstört.

In Homo faber verkörpert Walter Faber den Menschen, der sich vollständig als funktional-technisches Subjekt begreift. Er glaubt an Berechenbarkeit, Statistik, Wahrscheinlichkeit und technische Machbarkeit. Emotion, Zufall, Schuld, Herkunft und leibliche Bindung werden als Störgrößen ausgeblendet. Fabers Identität ist eine skulpturale Identität im strengen Sinn: geschlossen, kontrolliert, scheinbar unverletzlich. Der Roman zeigt jedoch, dass diese Selbstbeschreibung nicht mit der realen Welt rückgekoppelt ist. Die verdrängten Abhängigkeiten – Herkunft, Liebe, Körperlichkeit, Zeit – kehren als katastrophale Konsequenzen zurück. Frisch macht sichtbar, dass ein Mensch, der sich ausschließlich als rationales Funktionssubjekt setzt, existenziell blind wird. Wahrheit entsteht hier nicht durch richtige Berechnung, sondern durch die brutale Rückmeldung des Lebens, die zu spät eintritt.

Dürrenmatts Die Physiker radikalisiert diesen Befund auf gesellschaftlicher Ebene. Die Physiker glauben, durch Rationalität, Verantwortungsethik oder institutionelle Kontrolle die Folgen ihres Wissens beherrschen zu können. Wissenschaft erscheint als symbolisch isolierter Raum, getrennt von realen Konsequenzen. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass die Wirkungen des Wissens nicht kontrollierbar bleiben. Die symbolische Selbstberuhigung der Akteure – sei es durch moralische Rechtfertigung oder institutionelle Abschottung – erweist sich als Illusion. Auch hier kollabiert die Unverletzlichkeitsannahme. Dürrenmatt zeigt, dass Systeme, die ihre Rückkopplung mit der Welt ausblenden, strukturell in Selbstzerstörung münden.

Weitere literarische Beispiele desselben Grundkonflikts

Neben Hesse, Frisch und Dürrenmatt lässt sich eine ganze Linie moderner Literatur identifizieren, die diese doppelte Identität thematisiert.

Albert Camus beschreibt in Der Fremde (1942) eine Existenzform, die sich von symbolischen Sinn- und Moralordnungen gelöst hat, ohne jedoch in plastische Rückkopplung einzutreten. Meursault lebt nicht integriert, sondern entkoppelt. Der Roman zeigt die Leerstelle, die entsteht, wenn symbolische Ordnung wegfällt, ohne dass eine neue existenzielle Einbindung gefunden wird. Die Konsequenz ist nicht Freiheit, sondern Isolation.

Jean-Paul Sartre thematisiert in Der Ekel (1938) den Zerfall symbolischer Bedeutungszuschreibungen. Die Hauptfigur erlebt die Welt nicht mehr als sinnhaft geordnet, sondern als rohes, widerständiges Sein. Auch hier wird sichtbar, dass das Subjekt, das sich seiner symbolischen Selbstvergewisserung beraubt sieht, nicht automatisch lebensfähig wird. Ohne Rückkopplung in Handlung, Beziehung und Verantwortung bleibt nur Lähmung.

Samuel Beckett treibt diesen Prozess in Warten auf Godot (1952) auf die Spitze. Die Figuren existieren nahezu ausschließlich in sprachlichen Schleifen, Erwartungen und symbolischen Haltungen. Handlung, Stoffwechsel, Weltbezug und Konsequenz sind minimiert. Beckett zeigt eine Existenzform, die fast vollständig in symbolischer Selbstreferenz gefangen ist und gerade dadurch ihre Lebensfähigkeit verliert.

Auch Günter Grass thematisiert diesen Konflikt, etwa in Die Blechtrommel (1959). Oskar Matzerath verweigert das Erwachsenwerden als symbolische Setzung der Gesellschaft, bleibt jedoch zugleich in Schuld, Geschichte und Körperlichkeit verstrickt. Grass macht sichtbar, dass weder vollständige Anpassung an symbolische Ordnung noch reine Verweigerung einen Ausweg bieten. Die Vergangenheit wirkt als Rückkopplung unausweichlich fort.

Systematische Verdichtung

In Einbeziehung der vorherigen Texte lässt sich festhalten: Diese literarischen Werke beschreiben unterschiedliche Stadien desselben anthropologischen Problems. Sie zeigen Menschen, die sich entweder vollständig über symbolische Ordnungen, Rationalität und Autonomie definieren oder diese Ordnungen radikal verlieren, ohne eine plastische Einbindung in reale Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen zu erreichen. In beiden Fällen gerät Existenz in eine Krise.

Literatur fungiert hier als Frühwarnsystem. Sie macht sichtbar, dass der Mensch, der sich als skulpturale, unverletzliche Form setzt, seine Rückkopplungsfähigkeit verliert, während der Mensch, der symbolische Ordnung vollständig negiert, ebenfalls nicht lebensfähig wird. Die implizite Einsicht dieser Texte entspricht dem plastischen 51:49-Verständnis: Lebensfähigkeit entsteht nur dort, wo symbolische Ordnung und reale Rückkopplung nicht absolut gesetzt, sondern im Vollzug miteinander verschränkt bleiben.