Etymologie des „Dings“-Von Verhandlung zu Verdinglichung-Dingfestigkeit als Machttechnologie
Teil I – Kritik der Skulptur-Identität: Zur Verformung von Erkenntnis, Subjekt, Welt
Kapitel 1: Die Dinge-Welt – Verwandlung von Beziehung in Besitz
Die moderne Weltanschauung gründet auf einem folgenreichen epistemologischen Konstrukt: der Vorstellung, dass die Wirklichkeit aus „Dingen“ bestehe – fest umrissenen, benennbaren, voneinander abgrenzbaren Einheiten. Diese vermeintliche Objektivität suggeriert, dass Erkenntnis vor allem darin bestehe, diese Dinge zu identifizieren, zu klassifizieren und gegebenenfalls zu manipulieren. Doch was wie eine neutrale Beschreibung erscheint, ist in Wahrheit eine symbolische Operation: Die Transformation des Prozesshaften in das Besitzbare, der Relation in die Entität, der Verantwortung in die Kontrolle.
Historisch betrachtet verweist das Wort „Ding“ nicht auf einen isolierten Gegenstand, sondern auf einen sozialen Vorgang. Im altnordischen „þing“ und dem althochdeutschen „ding“ bezeichnete es eine öffentliche Gerichtsversammlung – einen Ort, an dem Konflikte verhandelt, Argumente ausgetauscht und soziale Maßbildung kollektiv ausgeübt wurden. Das ursprüngliche „Ding“ war ein Akt der Beziehung, kein Objekt. Die Umdeutung dieser semantischen Struktur zu einem scheinbar gegenständlichen Begriff markiert eine epistemische Zäsur: Aus dem Verhandlungsraum wurde ein Besitzobjekt; aus der Form im Widerstand ein Objekt der Kontrolle.
Diese ontologische Verfestigung setzt sich im modernen Sprachgebrauch fort. Der Ausdruck „etwas dingfest machen“ suggeriert, dass durch Festsetzung und Begrifflichkeit Wahrheit erzeugt wird – als ließe sich das Wirkliche durch sprachliche Fixierung erfassen. Doch in Wirklichkeit geschieht hier eine doppelte Verdrängung: Erstens wird die Plastizität des Wirklichen – seine Formbarkeit, seine Widerständigkeit, seine Rückwirkung – ausgeblendet. Zweitens wird der Mensch epistemisch in eine Position gesetzt, die ihm die Verfügungsgewalt über das Nicht-Verfügbare zuspricht. Erkenntnis wird dadurch zur symbolischen Besitznahme.
Die Dinge-Welt ist in diesem Sinn keine Beschreibung der Realität, sondern ein ideologisches Raster. Sie entzieht der Welt ihre Prozessualität, indem sie Beziehung durch Benennung ersetzt, Spürbarkeit durch Objektivität, ethische Antwortbarkeit durch technisches Handeln. Sie ist der semantische Unterbau einer epistemischen Herrschaftsstruktur, die nicht durch Gewalt, sondern durch Begriffsarbeit operiert. Alles, was sich der Fixierung entzieht – Bewegung, Ambivalenz, Relationalität –, wird entweder marginalisiert oder als irrational ausgegrenzt.
Besonders folgenreich ist dieser Wandel für die Begriffe des Geistigen und Gesellschaftlichen: Freiheit, Natur, Subjekt, Verantwortung oder Gerechtigkeit erscheinen in der Dinge-Welt als stabile Objekte, deren Bedeutung vermeintlich feststeht. Doch diese Festschreibungen verdecken ihre politische und historische Kontingenz. Sie sind nicht gegeben, sondern gemacht – und ihre Stabilität ist immer auch ein Effekt von Macht. Wer über die Dinge verfügt, verfügt über das Denken der Welt.
Die Kritik an der Dinge-Welt zielt daher nicht nur auf semantische Klärung, sondern auf erkenntnistheoretische Befreiung. Es gilt, die Begriffe aus ihrer Dingform zu lösen – und zurückzuführen auf das, was ihnen vorausgeht: Beziehung, Widerstand, Maß. Denn Erkenntnis ist nicht die Aneignung von Dinglichem, sondern das Ergebnis eines plastischen Prozesses, in dem Welt, Körper und Denken in Rückmeldung zueinander treten.
Das hier entwickelte Ausschlussverfahren versteht sich in diesem Zusammenhang als methodische Antwort auf die Verabsolutierung des Begriffs. Es versucht, durch gezielte Negationen jene epistemischen Fehlstellungen sichtbar zu machen, die durch die Dinge-Welt erzeugt werden. Erkenntnis beginnt, wo das Festmachen endet. Sie beginnt dort, wo das Denken wieder plastisch wird – verletzbar, formbar, resonant. Die Dinge-Welt, so lautet die zentrale These dieses Kapitels, ist keine Gegebenheit, sondern eine symbolische Konstruktion – und als solche zu verlernen.