Hermann Hesse und der existenzielle Konflikt zweier Selbstverständnisse

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

Hermann Hesse hat genau diesen existenzellen Krampf mehrfach literarisch gefasst. Es geht bei ihm nicht um zwei Menschentypen im biologischen Sinn, sondern um zwei konkurrierende Selbst- und Weltverständnisse, die im selben Menschen gegeneinander wirken. Zwei Werke sind dafür zentral.

„Der Steppenwolf“ (1927): Form-Identität gegen gelebten Vollzug

Im Steppenwolf beschreibt Hesse den inneren Krieg zwischen dem bürgerlich-geordneten Menschen und dem Wolf.

Der bürgerliche Teil steht für Ordnung, Anpassung, Besitz, feste Identität, moralische Normen – eine Skulptur-Identität: geschlossen, kontrolliert, scheinbar unverletzlich.

Der Wolf hingegen verkörpert Trieb, Lebendigkeit, Unordnung, Verletzlichkeit, unmittelbare Rückkopplung mit dem Leben.

Entscheidend ist:

Hesse zeigt, dass diese Trennung selbst eine falsche symbolische Konstruktion ist. Der eigentliche Schmerz entsteht aus dem Versuch, Leben in eine feste Form zu zwingen. Der Steppenwolf leidet nicht, weil er „zwei Wesen“ hat, sondern weil er sein Leben symmetrisch 50:50 spalten will, statt es plastisch zu integrieren.

Das „Magische Theater“ ist bei Hesse genau der Ort, an dem die Skulptur zerfällt und das Leben wieder als Vielheit, Durchgang, Spiel und Rückkopplung erfahrbar wird.

„Demian“ (1919): Zwei Welten, nicht zwei Wahrheiten

In Demian spricht Hesse explizit von zwei Welten:

  • der hellen, geordneten, moralisch sauberen Welt der Gesellschaft
  • der dunklen, widersprüchlichen, lebendigen Welt des Werdens

Die helle Welt ist eine symbolische Ordnung, die Sicherheit verspricht, aber Leben abstrahiert.

Die dunkle Welt ist keine „böse“, sondern die wirkliche Welt der Prozesse, in der Geburt, Tod, Schuld, Liebe, Abhängigkeit und Veränderung untrennbar sind.

Hier ist Hesse sehr nah an deinem 51:49-Denken:

Wahrheit entsteht nicht durch moralische Reinheit oder Gleichheit, sondern durch Durchgang durch Widerspruch, durch Verletzlichkeit und Rückkopplung.

Keine Postmoderne Beliebigkeit – sondern Existenzprüfung

Wichtig: Hesse vertritt keinen postmodernen Relativismus („jede Meinung ist Wahrheit“).

Im Gegenteil: Seine Texte sind Existenzprüfungen.

Überlebensfähig ist bei Hesse nicht der moralisch Angepasste und auch nicht der reine Triebmensch, sondern derjenige, der:

  • seine symbolischen Identitäten durchschaut,
  • sie nicht absolut setzt,
  • und sich dem lebendigen Vollzug aussetzt.

Das entspricht deiner Unterscheidung:

  • Skulptur-Identität (50:50): Ordnung, Besitz, Autonomie, Unverletzlichkeit → Erstarrung → Selbstzerstörung
  • Plastische Identität (51:49): Durchgang, Rückkopplung, Verletzlichkeit, Zusammenwirken → Leben

Zusammenfassung

Hesse beschreibt denselben Konflikt, den du formulierst:

  • nicht als Theorie,
  • sondern als inneren Existenzkampf.

Er zeigt:

  • Der Mensch, der nur noch in symbolischen Ordnungen lebt, lebt funktional nicht mehr.
  • Leben beginnt dort, wo man aufhört, sich als fertige Form zu begreifen.

In deiner Sprache:

Hesse diagnostiziert literarisch den Übergang

von der Skulptur-Identität

zur plastischen Existenz

– lange bevor diese Begriffe existierten.

Hermann Hesse hat in seinem literarischen Werk früh und mit großer Präzision einen existenziellen Konflikt beschrieben, der nicht als Gegensatz zweier biologischer Menschentypen zu verstehen ist, sondern als Spannung zwischen zwei konkurrierenden Selbst- und Weltverständnissen innerhalb desselben Menschen.

Dieser Konflikt betrifft die Frage, ob menschliche Existenz primär über symbolische Ordnung, feste Identität und normative Form organisiert wird oder ob sie sich als prozesshafte, verletzliche und rückgekoppelte Lebensform begreift.

Symbolische Ordnung und Erstarrung der Existenz

In Romanen wie Der Steppenwolf (1927) und Demian (1919) thematisiert Hesse eine Lebensform, die sich an Ordnung, Moral, Besitz, gesellschaftlicher Anerkennung und stabiler Identität orientiert. Diese Form der Existenz ist symbolisch vermittelt: Der Mensch versteht sich über Rollen, Zuschreibungen und Ideale. Das Selbst wird als in sich geschlossen, autonom und kontrollierbar gedacht. Abhängigkeiten, Widersprüche und Verletzlichkeit werden verdrängt oder als Defizite bewertet.

Diese symbolisch fixierte Existenzform erzeugt jedoch keinen inneren Halt, sondern einen zunehmenden inneren Druck. Hesse beschreibt diesen Zustand als existenziellen Krampf: Der Mensch hält an einer idealisierten Form fest, die mit der realen Dynamik des Lebens nicht übereinstimmt. Die Folge ist Entfremdung – nicht nur von der Welt, sondern vom eigenen leiblichen und zeitlichen Vollzug.

Prozesshaftigkeit, Widerspruch und lebendiger Vollzug

Demgegenüber stellt Hesse eine andere Weise des Mensch-Seins dar, die nicht auf moralischer Reinheit oder formaler Ordnung beruht, sondern auf dem Durchgang durch Widerspruch, Ambivalenz und Veränderung. Diese Existenzform ist nicht beliebig, sondern radikal wirklichkeitsgebunden. Sie akzeptiert, dass Leben kein abgeschlossenes Sein ist, sondern ein Geschehen, das sich nur im Vollzug, in Beziehung und in Rückkopplung entfaltet.

Im Steppenwolf wird dies im Motiv des „Magischen Theaters“ sichtbar: Die scheinbar feste Identität zerfällt in viele Teilprozesse, Perspektiven und Bewegungen. Entscheidend ist, dass diese Vielheit nicht zur Auflösung des Menschen führt, sondern im Gegenteil seine Lebendigkeit freilegt. Die Krise entsteht nicht durch Vielheit, sondern durch den Versuch, diese Vielheit in eine starre symbolische Einheit zu pressen.

Zwei Welten, aber kein Relativismus

In Demian spricht Hesse von zwei Welten: einer hellen, geordneten, moralisch kodierten Welt und einer dunklen, widersprüchlichen Welt des Werdens. Diese Unterscheidung ist jedoch nicht moralisch gemeint. Die „helle“ Welt steht für eine symbolische Ordnung, die Sicherheit verspricht, aber reale Lebensprozesse abstrahiert. Die „dunkle“ Welt bezeichnet die tatsächliche Erfahrungswirklichkeit, in der Geburt, Tod, Schuld, Liebe, Abhängigkeit und Veränderung untrennbar miteinander verbunden sind.

Hesse vertritt dabei keinen postmodernen Relativismus. Es geht ihm nicht um die Gleichwertigkeit beliebiger Meinungen, sondern um eine existentielle Bewährungsprobe. Wahrheit entsteht nicht durch Zustimmung oder Normkonformität, sondern durch die Fähigkeit, sich der Wirklichkeit des Lebens auszusetzen und deren Konsequenzen zu tragen.

Verbindung zum plastischen Menschenbild

In systematischer Perspektive lässt sich Hesses literarischer Konflikt als Vorform dessen lesen, was als Gegensatz zwischen einer skulpturalen und einer plastischen Identität beschrieben werden kann. Die skulpturale Identität strebt nach Geschlossenheit, Unverletzlichkeit und Symmetrie. Sie ist symbolisch organisiert und verliert den Kontakt zu realen Rückkopplungsprozessen. Die plastische Identität hingegen begreift den Menschen als offenen, verletzlichen und zeitlich gebundenen Knotenpunkt von Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen.

Hesses zentrale Einsicht lautet, dass Leben nicht dort stattfindet, wo Form perfektioniert wird, sondern dort, wo Form sich im Vollzug verändert. Der Mensch, der sich ausschließlich über symbolische Ordnungen definiert, existiert funktional nur noch eingeschränkt. Erst im Anerkennen von Prozesshaftigkeit, Abhängigkeit und Verletzlichkeit wird menschliche Existenz lebensfähig.

Ergebnis

Hermann Hesse beschreibt literarisch denselben Grundkonflikt, der sich theoretisch als Gegensatz zwischen symbolischer Selbstverabsolutierung und plastischer Rückkopplung fassen lässt. Sein Werk zeigt, dass der Versuch, Mensch-Sein auf feste Identität, Autonomie und Ordnung zu reduzieren, zu innerer Erstarrung und Selbstzerstörung führt. Überlebensfähig ist nicht die perfekt geformte Existenz, sondern jene, die sich als Teil eines lebendigen, widersprüchlichen und offenen Geschehens versteht.