II. Plastische Realität und Skulptur-Identität
1. Plastische Identität vs. Skulptur-Identität
Die zentrale Unterscheidung in Wolfgang Fenners Arbeit ist die Differenz zwischen plastischer Identität und Skulptur-Identität. Diese beiden Konzepte symbolisieren zwei grundlegend unterschiedliche Arten des Seins und der Wahrnehmung.
- Plastische Identität steht für die dynamische, formbare, natürliche Existenz des Menschen und der Welt. Der Begriff "plastisch" leitet sich von der Bildhauerei ab und beschreibt eine flexible, anpassungsfähige Existenz, die in ständiger Wechselwirkung mit ihrer Umgebung steht. Die plastische Identität bezieht sich auf die physische Realität, auf die Welt, die nach klaren Naturgesetzen funktioniert. Diese Identität erkennt die Verletzlichkeit des Menschen in der Natur an und fordert ein Leben im Einklang mit den Kräften der Natur. Der Mensch in seiner plastischen Identität ist ein Teil der Natur, der ständig geformt und beeinflusst wird.
- Skulptur-Identität beschreibt im Gegensatz dazu eine starre, künstliche Nachbildung der plastischen Identität. Die Skulptur-Identität entsteht durch die geistigen Konstrukte, die der Mensch erschaffen hat, um seine physische Verwundbarkeit und seine Abhängigkeit von der Natur zu leugnen. Sie symbolisiert die Abstraktion und Entfremdung des Menschen von der natürlichen Welt. In dieser Identität wird die Illusion der Unverletzlichkeit geschaffen, indem der Mensch sich als ein von der Natur getrenntes, übermächtiges Wesen darstellt. Doch diese Identität ist fragil und führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit, da sie sich den physikalischen Existenzbedingungen entzieht.
Die plastische Identität fordert vom Menschen, sich wieder als Teil des natürlichen Systems zu begreifen und sich den Naturgesetzen unterzuordnen, während die Skulptur-Identität ihn in eine illusionäre Welt geistiger Konstrukte führt, die schließlich zur Zerstörung der physischen Welt beiträgt.
2. Der Mensch als Flüssigkeitswesen – Wassergrammatik
Wolfgang Fenner führt in seiner künstlerischen Arbeit die Idee ein, dass der Mensch ein Flüssigkeitswesen ist. Die Grundlage dafür ist die biologische Tatsache, dass der menschliche Körper zu einem großen Teil aus Wasser besteht und sich die physikalischen Eigenschaften von Flüssigkeiten auf alle Lebensprozesse auswirken.
- Die Wassergrammatik ist eine Metapher für die Gesetzmäßigkeiten, nach denen der Mensch und die Natur funktionieren. Sie bezieht sich auf die dynamischen Prozesse, die den Fluss und das Gleichgewicht im Körper und in der Natur aufrechterhalten – vergleichbar mit den Strömungen von Flüssen und Ozeanen. Diese Idee unterstreicht, dass der Mensch, ähnlich wie das Wasser, formbar und anpassungsfähig ist, und dass sein Überleben von einem Gleichgewicht zwischen dem Inneren und dem Äußeren abhängt.
- Flüssigkeit steht hier symbolisch für die Fähigkeit des Menschen, sich in die natürliche Ordnung einzuordnen, während das Ignorieren dieser fließenden Natur des Lebens zu einem starren, unflexiblen Selbstverständnis führt – zur Skulptur-Identität.
Die Wassergrammatik ist auch eine Möglichkeit, das Verständnis für die Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt zu vertiefen. Das Wasser ist dabei nicht nur ein physisches Element, sondern auch ein Träger von Informationen und Energien, die das Leben möglich machen.
3. Techne und die Rückkehr zu den Ursprüngen des Kunstverständnisses
Der Begriff Techne stammt aus dem Griechischen und bedeutet Handwerkskunst. In der Antike umfasste dieser Begriff nicht nur das technische Können, sondern auch die Kunst, das Wissen und die Weisheit, die notwendig sind, um etwas zu erschaffen.
- Fenner fordert eine Rückkehr zu diesem ursprünglichen Kunstverständnis, in dem Kunst nicht als bloßer ästhetischer Ausdruck, sondern als praktische, schöpferische Weisheit verstanden wird. Die Techne repräsentiert die Fähigkeit, materielle und geistige Elemente zu verbinden, um etwas zu erschaffen, das sowohl den Naturgesetzen als auch den menschlichen Bedürfnissen entspricht.
- Die moderne Kunst hat sich oft von diesem handwerklichen Ansatz entfernt und sich auf intellektuelle und abstrakte Konzepte konzentriert, die den Bezug zur physischen Realität verloren haben. Fenner plädiert für eine Rückkehr zur plastischen Kunst, in der das Handwerk wieder im Mittelpunkt steht und als Medium dient, um die Verbindung zwischen Mensch und Natur zu erneuern.
Durch die Techne wird der Mensch zu einem bewussten Schöpfer, der Verantwortung für seine Werke übernimmt. Diese Rückkehr zu den handwerklichen Ursprüngen der Kunst bietet eine Lösung für die Entfremdung, die durch die Skulptur-Identität entstanden ist.
4. Der Stein und der Granatapfel als Symbole der Existenz
Die Symbolik des Steins und des Granatapfels spielt in Fenners künstlerischer Arbeit eine zentrale Rolle. Beide Symbole verkörpern unterschiedliche Aspekte der menschlichen Existenz und der Natur.
- Der Stein steht für die Stabilität und Beständigkeit der Natur. Er ist ein Symbol für die physikalische Realität, die sich durch ihre Unveränderlichkeit und Dauerhaftigkeit auszeichnet. Gleichzeitig kann der Stein für die Starrheit und die Unbeweglichkeit der Skulptur-Identität stehen, wenn der Mensch sich von der Flexibilität der Natur entfernt.
- Der Granatapfel hingegen symbolisiert das Leben, die Fülle und die Fruchtbarkeit. Seine vielen Kerne stehen für das Potenzial und die Vielfalt des Lebens. In vielen Kulturen ist der Granatapfel ein Symbol für die Schöpfung und das Fortbestehen der Menschheit. Doch auch hier zeigt Fenner die Ambivalenz: Der Granatapfel kann ebenso für den Verfall und die Verführung stehen, wie es im Mythos der Vertreibung aus dem Paradies angedeutet wird.
Durch die Symbole von Stein und Granatapfel schafft Fenner eine visuelle Sprache, die das menschliche Dasein als Teil der Natur reflektiert. Der Stein als starrer Vertreter der Skulptur-Identität und der Granatapfel als lebendiges Symbol der plastischen Identität stehen sich hier gegenüber.
5. Die Herausforderung: Der zweite evolutionäre Schritt
Wolfgang Fenner postuliert, dass die Menschheit vor einem entscheidenden zweiten evolutionären Schritt steht. Der erste evolutionäre Schritt war die biologische Entwicklung des Menschen, die ihn an die Spitze der Nahrungskette brachte. Doch dieser Fortschritt hat den Menschen in eine Krise geführt, da er sich zunehmend von der Natur und ihren Gesetzen entfernt hat.
- Der zweite evolutionäre Schritt fordert den Menschen auf, sich nicht mehr als Herrscher über die Natur, sondern als integraler Bestandteil eines größeren Systems zu verstehen. Dieser Schritt erfordert eine radikale Veränderung des Denkens und Handelns – weg von der Skulptur-Identität hin zur plastischen Identität.
- Fenner sieht diesen evolutionären Schritt als notwendige Voraussetzung für das Überleben der Menschheit. Es ist nicht mehr die biologische Anpassung, die zählt, sondern die kulturelle und geistige Anpassung an die Herausforderungen des Klimawandels, der Umweltzerstörung und der gesellschaftlichen Krisen.
Der zweite evolutionäre Schritt ist somit die Aufforderung an die Menschheit, ihre Verantwortung als Teil eines größeren, natürlichen Gefüges anzunehmen und sich aktiv am Schöpfungsprozess zu beteiligen, indem sie die Harmonie zwischen Mensch und Natur wiederherstellt.
Ziel des Kapitels
Dieses Kapitel erklärt die grundlegenden Konzepte, die Wolfgang Fenners Arbeit durchdringen, und hebt den Gegensatz zwischen einer starren, selbstbezogenen Existenz (Skulptur-Identität) und einer dynamischen, natürlichen Lebensweise (plastische Identität) hervor. Es fordert den Leser auf, über seine eigene Position in der Welt nachzudenken und einen Weg zu finden, der die physischen Gesetze und die kreativen Potenziale des Menschen in Einklang bringt.