Idiotis
Das Problem von Idiotis und Gemeinschaft
- In der griechischen Polis galt: Wer sich nur um sich selbst kümmerte und nicht an der Gemeinschaft teilnahm, war ein idiotis – ein „Privater“, was zugleich als Verlust an Menschsein galt.
- Sokrates selbst stellte sich nicht über die Gemeinschaft, aber seine radikale Infragestellung wirkte wie eine Privatisierung der Wahrheit: Jeder musste selbst denken, statt sich auf die Sicherheit der Gesetze und der Mehrheit zu verlassen.
Das war für die Gemeinschaft eine Bedrohung – weil sie die neue Grundlage von Gesetz und Ordnung noch nicht stabilisiert hatte.
Die Polis war durch einen Kanon der techne strukturiert, in dem das richtige Maß und der Gemeinsinn im Mittelpunkt standen.
An der untersten Stufe stand der Handel, Banken, da er durch Täuschung und Betrug die Gemeinschaft bedrohte. Privatheit (idiotis) galt als Beraubung der Gemeinschaft – ein Rückzug ins Eigene, der den Gemeinsinn schwächte. Dies verweist auf das zentrale Prinzip der Polis: Die Sicherheit und Geborgenheit des Kollektivs standen höher als individuelle Gewinnmaximierung.
Die Gegenwart: Die Herrschaft der Idiotes
In der Moderne ist der idiotis zur dominanten Figur geworden. Doch während er in der Polis als Berauber der Gemeinschaft galt, ist er heute Leitbild: das Geschäftswesen, das Individuum, das sich selbst zur Ware macht, die Ökonomie als oberstes Prinzip. Alle Referenzsysteme, die einst auf Symmetrie, Maß und Gemeinsinn gründeten, sind ausgehebelt. An ihre Stelle tritt eine Gesellschaft, die von Konstrukten, Symboliken und Märkten beherrscht wird. Was einst als Gefahr galt – Privatheit, Handel, Maßlosigkeit – ist heute Norm und Vorbild.
VI. Selbstzerstörung im Namen der Freiheit
Diese Entwicklung führt zur paradoxen Konsequenz: In dem Streben nach immer mehr, im Krieg des Gegeneinander, im Primat der Ökonomie, wird die Gemeinschaft beraubt, werden soziale Gesetzgebungen und demokratische Errungenschaften zerstört. Die Illusion, Kontrolle über Natur und Mensch zu besitzen, speist sich aus dem platonischen Erbe einer abstrakten Ordnung. Tatsächlich jedoch ist der Mensch, physikalisch betrachtet, nichts anderes als eine molekulare Verknüpfung – während 99 % der Aufmerksamkeit durch Markt, Medien und Unterhaltung gebunden werden. Freiheit kippt so in Ablenkung, Individualismus in Maßlosigkeit, Erkenntnis in Selbstzerstörung.