Kapitel: Neuroplastizität der Abhängigkeit – Vom Atem zur Entkopplung des Bewusstseins.
Die Ontologie der Abhängigkeit beginnt nicht mit dem Denken, sondern mit dem Atmen.
Jeder Atemzug ist Ausdruck einer existenziellen Einbindung des Menschen in die physikalische Verletzungswelt – ein ständiger Vollzug von Austausch, Aufnahme, Durchlässigkeit. Der Körper existiert nicht autonom, sondern als Funktionsteil innerhalb eines komplexen, offenen Systems, dessen Bedingungen er nicht selbst erzeugen kann. Atem, Nährstoffe, Temperatur, Gravitation – all dies entzieht sich seiner Verfügung, ist aber elementar für sein Fortbestehen. Der Mensch ist ein plastisches Wesen: seine Form entsteht im Verhältnis, in Reaktion, in Einpassung – nie aus sich selbst heraus.
Dem gegenüber steht eine zivilisatorische Identitätskonstruktion, die sich seit etwa 2500 Jahren über idealistische Subjektformen verfestigt hat: das autonome Ich, das sich selbst als Ursprung, Zentrum und Kontrollinstanz aller Wirklichkeit versteht. Diese Form kann als Skulptur-Identität gefasst werden – eine starre, aus der Relation herausgelöste Form, die vorgibt, unberührt, unversehrt, abgeschlossen zu sein. Die eigentliche Katastrophe beginnt dort, wo diese Skulptur-Identität nicht mehr nur als symbolische Abgrenzung, sondern als erkenntnistheoretisches und politisches Fundament dient.
Denn das Gehirn, plastisch in seinem Ursprung, ist in der Lage, reale Prozesse auszublenden, wenn sie dem inneren Konstrukt widersprechen. Seine Struktur bevorzugt das Energiesparende, das Vorhersehbare, das Abgeschlossene. Das sogenannte „predictive coding“ (Friston, 2010) zeigt: Das Gehirn sucht nicht nach Wirklichkeit, sondern nach Bestätigung bestehender Muster. Je mehr ein Subjekt seine kognitiven Modelle aus Konstruktionen (z. B. „Unverletzlichkeit“, „Souveränität“, „Unabhängigkeit“) speist, desto weniger ist es in der Lage, die realen Verletzungsbedingungen seiner Existenz plastisch zu integrieren.
Hier setzt die Neuroplastizität der Abhängigkeit an: Ein radikales Umlernen wäre erforderlich, um die Denkweise wieder mit der realen Tätigkeit in der Verletzungswelt zu verbinden. Doch gegen dieses Umlernen steht eine systemische Entkopplung des Bewusstseins, das sich zunehmend in digitalen, symbolischen oder ökonomischen As-Ob-Räumen bewegt. Es produziert alternative Welten – Klima-Modelle, Finanzmärkte, politische Simulationen – die mit der physischen Realität des Körpers kaum mehr in Wechselwirkung treten. Dies ist der kognitive Ausdruck der Skulptur-Identität: Denken ohne Konsequenz, Wahrnehmung ohne Durchlässigkeit, Symbol ohne Stoff.
Ein besonders paradoxes Beispiel dafür ist der Begriff „Umwelt“. In seinem heutigen Verständnis – entstanden erst vor etwa fünf Jahrzehnten – wird die Welt „außen“ als ein von uns Getrenntes gedacht, das beobachtet, geschützt oder genutzt werden kann. Dabei liegt in diesem Verständnis bereits der ideologische Fehler: Die Umwelt ist nicht Außen, sie ist nicht Objekt – sie ist das, woraus und worin wir bestehen. Die alte, plastische Idee des „Milieus“, der gelebten Durchdringung von Lebewesen und Umgebung, wurde ersetzt durch eine Dualität von Mensch und Natur, Innen und Außen, Subjekt und Objekt. Diese Umdeutung ist ein neurokognitives Produkt – ein Denkfehler mit gravierenden ökologischen und ethischen Konsequenzen.
In diesem Sinne ist die sogenannte Umweltbewegung in weiten Teilen selbst ein Kind der Skulptur-Identität. Sie will retten, was sie begrifflich bereits abgespalten hat. Ihre Rhetorik operiert mit Abbildungen, Statistiken, Bildern des Untergangs – aber sie bleibt häufig in einer Vorstellung von Kontrolle, Regulierung, Schutz, also einer „Verwaltung des Außen“ gefangen. Doch was gebraucht wird, ist kein „Schutz der Umwelt“, sondern eine plastische Wiedereingliederung des Menschen in die Gesamtform des Lebendigen – ein Denken, das nicht auf Trennung, sondern auf Rückbindung basiert.
Die Neuroplastizität der Abhängigkeit wäre also keine Anpassung an Systeme, sondern eine Reorganisation des Bewusstseins selbst – weg vom Denken in statischen Begriffen und hin zum Denken in plastischen Spannungsverhältnissen. Begriffe wie „Funktion“, „Grenze“, „Innen“, „Außen“ müssten dabei radikal neu gedacht werden – nicht mehr als ontologische Trennlinien, sondern als relationale Membranzonen, durch die Energie, Information und Stoffe in differenzierter, aber kontinuierlicher Weise zirkulieren. Was wir „Ich“ nennen, wäre dann nichts anderes als ein Knotenpunkt in einem atmenden, plastischen Gewebe des Lebendigen – eine Schwingungsfigur, kein Zentrum.
Nur durch eine solche Rückbindung könnte sich der Mensch als Teil des plastischen Realitätsprozesses begreifen – nicht als Besitzer der Welt, sondern als Teilhaber an ihren Formen. In dieser Perspektive wird deutlich: Der Versuch, den Atem zu „beherrschen“, ist nicht nur illusorisch, sondern der Ausgangspunkt einer kognitiven Entgleisung, die den Boden des Lebens aus dem Denken entfernt hat. Die Rückgewinnung dieses Bodens – durch künstlerisches Handwerk, durch Empfindungslernen, durch plastisches Denken – wäre nicht nur eine anthropologische Wende, sondern eine Voraussetzung für planetarisches Überleben.