Neue Begrifflichkeiten zu entwickeln,
Neue Begriffe für neue Verhältnisse – Denken als Begriffsarbeit im Spannungsfeld von Funktion und Verantwortung
Kritik an bestehenden Begriffen allein genügt nicht. Wer erkennt, dass Sprache Wirklichkeit nicht nur beschreibt, sondern erzeugt, der muss auch bereit sein, neue Begriffe zu schaffen – nicht willkürlich, sondern gestützt auf Erfahrung, Verhältnis und Wirkung. Es geht um eine Ethik des Benennens: um Begriffe, die nicht verdecken, sondern offenlegen; die nicht abschließen, sondern Beziehungen aufzeigen.
Begriffe wie „Natürlichkeit“ oder „Künstlichkeit“ erscheinen in unserer Alltagswahrnehmung harmlos. Doch sie verbergen grundlegende Unterscheidungen im Weltverhältnis. In einem plastischen Erkenntnismodell schlägt sich diese Differenz in einer neuen Begriffspaarung nieder: Unverletzlichkeitswelt und Verletzungswelt.
Die Unverletzlichkeitswelt ist das Resultat kultureller Künstlichkeit – sie beschreibt eine symbolisch stabilisierte, scheinbar perfekte Ordnung, die auf Abgrenzung, Funktionalität und Kontrolle beruht. In ihr erscheinen Dinge abgeschlossen, Identitäten eindeutig, Systeme autonom. Sie ist die Welt der Begriffslogik, der Sicherheitsversprechen, der funktionalen Isolation. Hier herrscht das Ideal des Unberührbaren, des Unveränderbaren – doch gerade dadurch verliert sie jedes Maß, jede Rückwirkung, jede Form von lebendiger Erkenntnis.
Die Verletzungswelt hingegen ist der Raum des Lebendigen. Sie ist nicht harmonisch, aber rückmeldend; nicht stabil, aber formfähig. Sie zeigt sich dort, wo Systeme offen sind, wo Beziehungen riskant, aber notwendig sind – wo etwas nicht funktioniert, aber genau darin seine Bedeutung gewinnt. Hier entscheidet nicht das System, sondern die Konsequenz des Handelns – das Gelingen oder Misslingen einer Tätigkeit im Verhältnis zu anderen Funktionsteilen. Diese Welt ist nicht abgeschlossen, sondern kontextuell. Und sie verlangt Verantwortung – nicht im Sinne moralischer Norm, sondern als Antwortfähigkeit im Geflecht wechselseitiger Abhängigkeit.
In diesem Sinn ist Erkenntnis nicht die Beschreibung von etwas Bestehendem, sondern ein Vorgang des Erkennens im Spannungsfeld von Funktion, Wirkung und Maß.
Was wir „Mensch“ nennen, existiert nicht als abgeschlossene Instanz, sondern als Funktionsteil eines größeren Zusammenhangs – abhängig von anderen Teilen wie Atem, Nahrung, Mikroben, Beziehungen, Zeit, Raum. Sinn und Sein entstehen nicht aus Autonomie, sondern aus Anerkennung dieser Abhängigkeit.
Deshalb brauchen wir ein anderes Denken: ein Denken, das nicht auf Begriffe zurückgreift, um zu beherrschen, sondern das neue Begriffe entwickelt, um Verhältnis, Spannung und Maß sichtbar zu machen. Plastisches Denken benennt nicht nur – es bildet. Und in dieser Formarbeit liegt seine ethische Kraft.