Skulpturidentität und plastische Identität – Zwei Ordnungsstrukturen zwischen Selbstlegitimation und funktionaler Einbettung.

Aus Globale-Schwarm-Intelligenz

1. Einleitung: Maß, Gleichgewicht und die Fehlinterpretation der Symmetrie.

Das abendländische Denken weist seit rund 2.500 Jahren eine epistemische Schieflage auf: die Verwechslung von Harmonie mit starrer Spiegelgleichheit. Im altgriechischen Begriff symmetría bedeutete „gemeinsames Maß“ (syn-métron) nicht perfekte Gleichheit, sondern ein stimmiges Verhältnis der Teilesymmetry.hu. So galt ein leicht asymmetrisches Proportionenverhältnis – etwa 51:49 – als harmonisch, sofern es funktional und ästhetisch kohärent war. Erst die philosophische Tradition seit Platon überführte dieses bewegliche Maß in ein statisches 50:50-Ideal: eine exakt spiegelbildliche Symmetrie als Sinnbild des Vollkommenensymmetry.hu. Dieses Verständnis prägte das neuzeitliche Rationalitätsideal, in dem exakte Bilanzierung, Gleichgewicht und formale Perfektion als Ordnungsprinzipien gelten. Bis heute wird in vielen Wissenschaften, Institutionen und Rechtssystemen eine solche 50:50-Idealsymmetrie mit Gerechtigkeit, Stabilität oder Wahrheit gleichgesetzt – obschon sie in der Natur faktisch nicht vorkommt. Natürliche Gleichgewichte sind dynamisch und beruhen auf minimalen Ungleichverteilungen, sie oszillieren innerhalb enger Grenzen und sind in ständiger Anpassung begriffen. Eine exakte Symmetrie würde Stillstand bedeuten – in physikalischer Hinsicht den thermodynamischen Tod eines Systems.

Diese Diskrepanz zwischen natürlicher Dynamik und idealisierter Statik bildet den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. Zunächst werden zwei kontrastierende Ordnungsstrukturen definiert: Skulpturidentität (statisches Perfektionssystem) und plastische Identität (dynamisches Funktionssystem). Anschließend wird analysiert, wie sich die abendländische Ideenwelt einseitig auf erstere Struktur fokussierte, welche Verzerrungen dies in Wissenschaft und Kultur erzeugt hat und welche Hypothesen sich aus der Gegenüberstellung beider Ordnungsmuster ableiten lassen. Dabei zeigt sich, dass es sich bei der scheinbaren “Perfektion” symmetrischer Modelle um eine Fehlanpassung an die Realbedingungen des Lebens handelt – mit weitreichenden Folgen für Erkenntnistheorie, Gesellschaft und ökologisches Gleichgewicht.

2. Zwei Ordnungsstrukturen: Skulpturidentität vs. plastische Identität.

Aus der historischen Symmetrie-Irritation haben sich zwei Idealtypen von Ordnungsstrukturen herausgebildet, die hier als Skulpturidentität und plastische Identität bezeichnet werden. Diese Konzepte dienen der analytischen Gegenüberstellung menschengemachter und naturgegebener Ordnungsprinzipien.

  • 2.1 Skulpturidentität – das geschlossene Perfektionssystem: Unter Skulpturidentität wird eine vom Menschen konstruierte Identitäts- und Ordnungsform verstanden, die sich durch Stabilität, Abgeschlossenheit und Selbstlegitimation auszeichnet. Die Skulpturidentität ist vergleichbar mit einer vollendeten Statue: formvollendet, unveränderlich und den Einflüssen der Umgebung scheinbar entrückt. Sie beruht implizit auf dem 50:50-Prinzip absoluter Symmetrie und Gleichgewichtung. Die Realität erscheint hier als körperlose Ideenwelt im Sinne Platons – ein Reich unveränderlicher, perfekter Formen, denen die physische Welt nur unvollkommen nachgebildet istdaily-philosophy.com. Philosophisch manifestiert sich dieses Konzept etwa in Platons Ideenlehre (die sinnliche Welt als Schatten der idealen Formen), in Descartes’ Dualismus (Geist als res cogitans völlig getrennt von ausgedehnter Materieiep.utm.edu) und in Kants transzendentaler Perspektive (die Wirklichkeit als bloßes Erscheinen in den Formen von Raum, Zeit und Kategorien, während das Ding an sich unerkennbar bleibtplato.stanford.eduplato.stanford.edu). Gemeinsam ist diesen Ansätzen ein Vorrang des Geistes oder der Form gegenüber der Materie: Es wird eine ideale Ordnung postuliert, die keiner Verwundbarkeit, keinem Wandel und keiner Abhängigkeit von physischen Bedingungen unterliegt. – Soziokulturell äußert sich die Skulpturidentität in Begriffen wie dem autonomen Individuum, der unantastbaren Seele oder dem souveränen Selbst, das sich als losgelöst vom „Rest der Natur“ begreift. Diese Ordnung legitimiert sich selbst durch abstrakte Prinzipien und behauptet Unverletzlichkeit: In der „körperlosen Welt“ der Symbole, Gesetze und digitalen Sphären kann man nichts „anfassen“ oder direkt beschädigen; alles scheint reversibel und kontrollierbar durch menschlichen Willen oder Vorstellungskraft. Dieses System neigt dazu, Perfektion und Harmoniesucht zu idealisieren – sei es als vollkommenes geometrisches Design, als lückenlose Logik oder als vermeintlich gerechtes Gleichgewicht exakt gleicher Anteile. Der Denkfehler besteht darin, dass starre Perfektion mit echter Funktionalität verwechselt wird. Die Skulpturidentität entwirft ein geschlossenes System ohne natürliche Rückkopplung: Fehlerkorrekturen erfolgen nicht durch reales Feedback der Umwelt, sondern durch interne Referenz auf die eigenen, bereits gesetzten Prinzipien. In gewisser Weise agiert dieses System autopoietisch im schlechten Sinne – es erhält nur sich selbst, jedoch um den Preis der Entfremdung von den tatsächlichen Existenzbedingungen. Neurobiologisch korrespondiert die Skulpturidentität mit einer Dominanz älterer Hirnareale (limbisches System, Stammhirn), insofern hier Abwehrmechanismen und reflexhafte Selbstbehauptungsstrategien im Vordergrund stehen: Neues wird abgewehrt, die Wahrnehmung bevorzugt bestätigende Informationen (confirmation bias), und höhere kognitive Funktionen (Neokortex) werden primär eingesetzt, um das bestehende Welt- und Selbstbild zu rationalisieren statt es an Realitäten anzupassen. Insgesamt kann man die Skulpturidentität auch als Perfektions-Paradigma charakterisieren – oder kritisch als „Perfektions-Parasit“, da sie ihre Existenz letzten Endes auf Kosten der physischen Grundlage aufrechterhält (siehe unten, Abschnitt 4).
  • 2.2 Plastische Identität – das offene Funktionssystem: Der Gegenbegriff, die plastische Identität, beschreibt eine natürliche Ordnung, in der Lebewesen (einschließlich des Menschen) als funktionale Teile eines größeren Systems eingebettet sind. „Plastisch“ bedeutet hier formbar und anpassungsfähig, nicht beliebig: Die plastische Identität ist verwundbar und verletzlich, aber gerade dadurch lern- und entwicklungsfähig. Ihr Ordnungsprinzip ist das 51:49-Prinzip minimaler Asymmetrie. Damit ist gemeint, dass stabile Ordnung in der Natur stets eine leichte Ungleichverteilung aufweist – einen Überschuss oder Mangel, der Bewegung und Fluss antreibt. Dieses Prinzip zeigt sich in unzähligen Beispielen: physiologisch in den leichten Rhythmusvariationen eines gesunden Herzens oder Gehirns (kein Takt ist exakt periodisch, kleine Abweichungen signalisieren Anpassungsfähigkeit); ökologisch in Nicht-Gleichgewichtszuständen wie Nährstoffkreisläufen, die nur durch kontinuierliche Durchmischung und Fluktuation stabil bleiben; physikalisch in sogenannten dissipativen Strukturen (Prigogine), die fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht bestehen. Wichtig ist: Leben existiert nur als Nicht-Gleichgewichtssystem. Thermodynamisch gesprochen hält sich ein Organismus durch ständigen Import von negentropischer Energie fern vom Entropietoden.wikipedia.org. Sobald ein biologisches System ein perfektes Gleichgewicht erreicht, kommt sein innerer Fluss zum Erliegen – es stirbt. Dem 51:49-Prinzip entsprechend sind natürliche „Gleichgewichte“ also in Wahrheit Schaukelbewegungen um ein bewegliches Zentrum; das System pendelt oder oszilliert, immer bereit, auf Veränderungen mit leichter Verschiebung zu reagieren. – Soziokulturell impliziert plastische Identität ein Verständnis des Menschen als Teil der Biosphäre, eingebunden in soziale und ökologische Netze von Wechselwirkungen. Sie betont Verantwortung und Rückkopplung: Handlungen werden daran gemessen, ob sie im größeren Wirkungsgefüge funktionieren oder nicht funktionieren (siehe Abschnitt 5). Eine solche Identität ist offen und lernfähig: Sie anerkennt die Grenzen (Minimal- und Maximal-Werte) der tragenden Systeme und strebt keine abstrakte Perfektion an, sondern Funktionsoptimierung innerhalb variabler Grenzen. Neurobiologisch würde man hier eine Integration höherer kognitiver Areale (präfrontaler Kortex) mit emotionalen und sensorischen Rückmeldungen erwarten – d.h. Selbstregulation statt starrer Reflexe. Der Mensch in plastischer Identität begreift sich nicht als Beherrscher eines Systems, sondern als Regler in einem Regelkreis, der ebenso beeinflusst wie beeinflusst wird. Damit einher geht in der Regel eine erhöhte Stressresilienz und Kreativität: Anpassung an neue Umstände erfordert kognitive Flexibilität, Empirie-Sensibilität und Bereitschaft zur Kurskorrektur.

Zusammenfassend lassen sich Skulpturidentität und plastische Identität als entgegengesetzte Pole aufspannen. Erstere strebt nach ideeller Perfektion ohne Veränderung, letztere nach Anpassung ohne Auflösung der Form. Erstere ist geschlossen, autarker scheinend und statisch; letztere ist offen, rückgebunden und dynamisch. Damit verbunden sind unterschiedliche Selbstbilder: Im Skulptur-Modus legitimiert sich das Selbst durch Berufung auf höhere Ideen oder reine Autonomie („Selbstzweck“), im plastischen Modus durch nachprüfbare Funktionserfüllung und Eingebettetsein in Beziehungen („Mit-Zweck“). Diese Dichotomie ist freilich ein theoretisches Konstrukt – empirisch mischen sich beide Anteile. Doch gerade die heutige Zivilisationssituation legt den Schluss nahe, dass die Skulpturidentität historisch überbetont wurde, während die plastische Einbettung vernachlässigt blieb. Die Folgen dieser Schieflage werden in den folgenden Sektionen erörtert.

3. Epistemische und zivilisatorische Schieflage: Dominanz der Skulpturidentität.

Die Entwicklung der Wissenschaften und Geistesströmungen nach der Antike kann – pointiert formuliert – als schrittweise Emanzipation der Ideenwelt von der Naturwelt beschrieben werden. Insbesondere die europäische Neuzeit forciert eine Trennung von „Innen“ und „Außen“, Geist und Materie, Kultur und Natur, die weitgehend dem Paradigma der Skulpturidentität entspricht. Einige Beispiele illustrieren diese Tendenz:

  • In der Philosophie ab dem 17. Jahrhundert wird der Dualismus paradigmatisch: René Descartes erklärt die denkende Substanz (res cogitans) für wesenhaft verschieden von der ausgedehnten Substanz (res extensa)iep.utm.edu. Damit wird der Grundstein gelegt, den menschlichen Geist als körperlos und ungebunden zu denken – und die materielle Welt als mechanisches, seelenloses Uhrwerk. Das Carte’sche Programm führte einerseits zur objektiven Naturwissenschaft (die Materie gehorcht deterministischen Gesetzen, ohne finalen Sinn), andererseits zu einer Erhöhung des Bewusstseins als eigenständiger Instanz, die diese Gesetze von außen betrachten kann. Im Fahrwasser dieser Denkschule entstand die Vorstellung einer perfekten Rationalität: Wenn die Welt einem exakten Mechanismus gleicht, so der Glaube, kann ein hinreichend vernünftiger Geist sie vollständig durchdringen und beherrschen. Dieser Intellekt glaubt sich selbst unfehlbar, sofern er nur strikt logisch-mathematisch verfährt – ein deutlicher Ausdruck des 50:50-Perfektionsideals im Erkenntnisprozess.
  • Die deutsche Aufklärung und der Idealismus radikalisierten diese Trennung noch: Immanuel Kant postulierte, dass das menschliche Erkenntnisvermögen der Welt apriorische Formen aufzwingt (Raum, Zeit, Kausalität etc.) und dass die „Dinge an sich“ uns prinzipiell verschlossen bleibenplato.stanford.eduplato.stanford.edu. Damit wird der gesamte erfahrbare Kosmos zu einer Konstruktion unseres Geistes – die Realität, die wir wahrnehmen, ist in Kants Modell nichts weiter als die Projektion unserer eigenen Kategorien. Während dies ein wichtiger Schritt zur Demut vor den Grenzen der Vernunft war, zementierte es zugleich die Innenwelt-Außenwelt-Kluft: Das Innen (Bewusstseinsordnung) galt fortan als einziger Ort, an dem Wahrheit und Wert konstituiert werden, während das Außen (die Natur) als chaotisch oder zumindest an sich bedeutungslos betrachtet werden konnte, formbar durch unsere Begriffe. Die Spätfolgen zeigen sich u.a. in extrem subjektivistischen Strömungen (deutscher Idealismus, Radikalkonstruktivismus), welche die reale Rückbindung des Denkens an die natürliche Funktionalität ausblenden. Selbst philosophische Richtungen, die sich als Kritik der Zivilisation verstanden – etwa die Kulturkritik eines Jean-Jacques Rousseau oder die Frankfurter Schule im 20. Jh. (Horkheimer/Adorno) – verhafteten implizit oft noch im Dualismus und in der Vorrangstellung des Geistes. Sie verurteilten zwar die Entfremdung des Menschen von der Natur, griffen aber selten die zugrundeliegende epistemische Symmetrieannahme an: nämlich dass es ein ideales, vernünftiges Soll-Maß der Gesellschaft gebe, an dem die Wirklichkeit zu messen sei. Dieses Soll blieb dem 50:50-Denken verhaftet (etwa als Utopie der vollkommen gerechten Gesellschaft, der vollständig aufgeklärten Vernunft etc.), anstatt die Asymmetrie und Unvollkommenheit als potentielle Quelle von Entwicklung zu würdigen.
  • In den Naturwissenschaften führte die Newtonsche Mechanik (und nachfolgend die klassische Physik) zunächst zu einem Weltbild strenger Symmetrie und Reversibilität: Prozesse wurden als zeitumkehrbar angesehen, Gleichgewichtszustände als Norm. Erst im 19. Jahrhundert brachten die Thermodynamik und später die Evolutionstheorie Brüche in dieses Bild. Die Erkenntnis, dass Wärmeprozesse unumkehrbar sind (Entropiesatz) und dass die Evolution keine perfekte Schöpfung statisch vorhält, sondern über Variation und Selektion allmählich Form ausbildet, wies auf die fundamentale Rolle der Asymmetrie und Irreversibilität im Naturgeschehen hin. Dennoch blieb das Ideal einfacher, symmetrischer Modelle lange wirksam: In der Biologie dominierte das Gleichgewichtsbild des Organismus (Homöostase) – erst spät erkannte man, dass ein Organismus kein statisches Gleichgewicht hält, sondern ein dissymmetrisches Fließgleichgewicht (Prigogines Dissipative Strukturen). In der Ökonomie etablierte sich im 20. Jh. die Gleichgewichtstheorie (Walras, später neoklassische Synthese), welche Wirtschaftssysteme als zu einem Gleichgewicht tendierend modelliert – trotz wiederholter Krisen und empirischer Evidenz von überschießenden, chaotischen Dynamiken. Solche Modelle sind Beispiele dafür, wie die körperlose Perfektionswelt der Theorie über die tatsächlichen Kontextbedingungen triumphierte: Man tut „als ob“ die Gesellschaft oder Wirtschaft einer exakten mathematischen Balance gehorche, obgleich diese Annahme Realprozesse verzerrt. Erst neuere interdisziplinäre Ansätze – etwa die Komplexitätsforschung, Netzwerktheorie und Systemökologie – beginnen diese Einseitigkeit aufzubrechen, indem sie die realen Ungleichgewichte und Nichtlinearitäten in den Blick nehmen. So wird in aktuellen Organisationswissenschaften betont, dass soziale Systeme eher komplexen Netzwerken gleichen, in denen Unsicherheit, Co-Evolution und Interdependenz vorherrschen – anstelle der früher unterstellten Berechenbarkeit und kontrollierbaren Stabilitätmedium.commedium.com. Hier findet eine langsame epistemische Neuorientierung statt, die implizit dem 51:49-Denken näherkommt.

Charakteristisch für die traditionelle Dominanz der Skulpturidentität in den Disziplinen ist also eine Einseitigkeit: die Konzentration auf abstrakte, formale Ordnungskriterien (Symmetrie, Perfektion, Balance) unter Vernachlässigung der konkreten funktionalen Einbettung dieser Ordnungen in ein dynamisches größeres System. Man könnte sagen, viele Wissenschaften und Philosophien der letzten Jahrhunderte haben an einer falschen Universalie gearbeitet – einem Zerrbild von Ordnung, das dem lebendigen Kontext nicht gerecht wird. Dadurch entstand eine Kluft zwischen Denken und Wirklichkeit, treffend formuliert von Gregory Bateson: „Die großen Probleme der Welt resultieren daraus, dass die Art, wie die Natur funktioniert, und die Art, wie der Mensch denkt, unterschiedlich sind“medium.com. Unsere Zivilisation hat Institutionen geschaffen, als gälte das starre 50:50-Betriebssystem der Ideenwelt auch für die physische Welt – als könnten politische Verträge Naturgesetze aushebeln oder finanzielle Abstraktionen unendliches Wachstum ermöglichen. Diese Illusion hat lange funktioniert, weil technischer Fortschritt und fossile Energie eine temporäre Pufferzone schufen, in der Rückkopplungen verzögert oder externalisiert wurden. Doch nun, im 21. Jahrhundert, treten die Konsequenzen dieser Denkweise zu Tage.

4. Konsequenzen und Symptome: Rückkopplungsschock und Funktionsdefizite.

Wenn die körperlose Skulpturidentität – bildlich gesprochen – parasitäre Züge trägt, dann zeigt sich dies daran, dass sie die Grundlagen ihrer eigenen Möglichkeit untergräbt. Die aktuelle ökologische Krise (Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Ressourcenerschöpfung) kann als direktes Symptom einer Zivilisation gelesen werden, die im Modus der Perfektionswelt operiert und die Rückkopplungssignale der Natur zu lange ignoriert hat. Einige konkrete Befunde untermauern diese Diagnose:

  • Die planetaren Grenzen (Rockström et al. 2009) werden überschrittengiss.nasa.govgiss.nasa.gov. Unser Globalsystem nähert sich oder überschreitet Kipppunkte bei Klima, Artensterben, Landnutzung und Nährstoffzyklen. Diese Grenzen markieren die physikalischen Maximalwerte des Erdsystems, die nicht verhandelbar sind. Doch die Architektur unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells nimmt darauf wenig Rücksicht, da sie von linearem Wachstum und Beherrschbarkeit ausgeht – klassische Annahmen im 50:50-Weltbild. Im Perfektionsdenken gibt es kein „Zuviel“ (da Perfektion als endliches Optimum gedacht ist, nicht als Überschreiten eines Maximums). Erst der manifeste Anstieg von Chaos – etwa Extremwetterereignisse, Pandemie-Ausbrüche, Finanzkrisen – zwingt die Einsicht auf, dass ein Nichtbeachten natürlicher Min/Max-Regeln katastrophale Folgen zeitigt.
  • Die fehlende Selbstkorrektur der gesellschaftlichen Institutionen ist auffällig. Obwohl Faktenlage und Prognosen eindeutig auf eine Schädigung der Lebensgrundlagen hindeuten, bewegen sich viele Entscheidungssysteme weiterhin in abstrakten Koordinaten: Politische Diskurse verlieren sich in Symbolpolitik und Machterhalt, während die physischen Probleme (Emissionen, Flächenverbrauch etc.) ungebremst voranschreiten. Diese Diskrepanz zeigt, was passiert, wenn ein System in erster Linie auf Selbstlegitimation statt auf funktionale Problemrückmeldung ausgerichtet ist. Man verteidigt ein bestimmtes Identitätsnarrativ („Fortschritt“, „Wachstum“, „Souveränität“) selbst dann, wenn es real dysfunktional wird. In der Terminologie des Modells: Die Skulpturidentität hat keine eingebaute demütige Fehlerkultur, da Fehlersignale als Störungen eines perfekten Plans gedeutet und oft extern attribuiert werden (Schuldige suchen, statt das Paradigma zu hinterfragen).
  • Psychologisch lässt sich eine Zunahme von Stress und Orientierungslosigkeit beobachten, was als innere Rückkopplung der Fehlanpassung gedeutet werden kann. Das starre Perfektionsideal erzeugt Druck: Das Individuum soll sich in starre Raster fügen (Leistungsnormen, Konsumideal, perfektes Selbstbild in sozialen Medien), was im Widerspruch zur offenen Natur seiner biopsychischen Bedürfnisse steht. Die Folge sind Erschöpfungszustände (Burn-out), Sinnkrisen und vermehrte Aggressionsbereitschaft – typische Zeichen, dass ein Regelkreis ins Schwingen gerät bzw. an Grenzen stößt. Die Stammhirn-Dominanz als Neuromuster der Skulpturidentität (vgl. Abschnitt 2.1) kann im Kollektiv zu irrationalen Massenphänomenen führen: Angst- und Feindbild-gesteuerte Politik, „Rückfälle“ in autoritäre Muster, weil die Komplexität der echten Welt überfordert. Diese Tendenzen sind kompatibel mit der Annahme, dass ein System, das auf Schein-Perfektion getrimmt wurde, im Stressfall in chaotisches Verhalten umschlägt, da es keine puffernden asymmetrischen Mechanismen entwickelt hat.

Man kann diese und weitere Symptome als Indiz dafür nehmen, dass unsere Zivilisation an einem Rückkopplungsschock leidet: Die lange unterdrückten Rückmeldungen der plastischen Realität (Verletzbarkeit der Biosphäre, Endlichkeit der Ressourcen, Grenzen des individuellen Leistungsvermögens) brechen nun verstärkt herein und treffen auf Strukturen, die darauf nicht ausgelegt sind. Das entspricht dem Szenario eines Parasiten, der den Wirt zu weit geschwächt hat: Entweder erfolgt eine Anpassung (der Parasit mildert seine Wirkung oder wird durch Ko-Evolution in ein symbiotischeres Verhältnis gezwungen) – oder der Wirt stirbt und mit ihm der Parasit. Übertragen heißt das: Die vom 50:50-Ideal dominierte Kultur muss sich transformieren, hin zu einer Eingliederung in die 51:49-Naturordnung – oder sie wird an ihren eigenen Folgen zugrunde gehen.

5. Regelwerke und Funktionsprüfung: Die Rückkehr des Maßes.

Um die nötige Transformation konzeptionell zu untermauern, ist es hilfreich, die Funktionslogik der plastischen Identität noch einmal explizit zu machen. Denn diese enthält bereits den Schlüssel zur Korrektur der Schieflage. Das natürliche Referenzsystem kennt nur eine letztgültige Prüffrage: Funktioniert es – oder funktioniert es nicht? Diese Frage wird an sämtliches Handeln und Bestehen gestellt, und zwar implizit durch die Fakten der Realität, nicht explizit durch ein Gericht oder eine Theorie. Im plastischen (naturhaften) Ordnungssystem gelten damit folgende Regeln:

  • Minimaleffekt-Regel (Überleben): Unterschreitet eine Variable das Minimum, das zum Fortbestand des Systems nötig ist (z.B. zu wenig Nahrung, zu geringe Temperatur, Mangel an genetischer Diversität), dann funktioniert das System nicht mehr – es droht Zusammenbruch. Folglich hat jedes System Mechanismen entwickelt, die Unterschreitungen anzeigen (Hunger, Schmerz, Informationsmangel als Stressor) und Handlungen stimulieren, um das Minimum wieder zu erreichen. Diese negative Rückkopplung ist in der Biologie allgegenwärtig und in der Kultur als Konzept der Bedürfnisbefriedigung verankert.
  • Maximaleffekt-Regel (Überlastung): Überschreitet eine Variable ein Maximum, das die Systemstabilität garantiert (z.B. Körperkerntemperatur überlebt 42°C nicht; zu hoher Populationsdruck lässt ein Ökosystem kollabieren; zu große soziale Ungleichheit zerstört Zusammenhalt), dann tritt ebenfalls Dysfunktion ein. Auch hier gibt es in natürlichen Systemen Alarmsignale (Hitzegefühl, Sättigung, territoriales Abwandern von Tieren, Revolten in Gesellschaften bei Überdruck etc.). Diese oft subtileren Signale werden im Skulptur-Modus gerne ignoriert, da das Mehr zunächst Vorteil suggeriert (z.B. mehr Profit, mehr Leistung). Die plastische Identität dagegen kennt kulturell das Konzept der Maßhaltung und Suffizienz – Prinzipien, die in vormodernen Gesellschaften (und heutigen indigenen Kulturen) oft verankert waren, jedoch im Industriezeitalter in Vergessenheit gerieten.
  • Rückkopplungsregel (Lernen): Entscheidendes Merkmal funktionierender Systeme ist die Rückbindung der Entscheidung an die Folgen. In der Ökologie spricht man von Feedback Loops: Ein System, das aufrecht erhalten bleiben soll, muss aus den Ergebnissen vorheriger Zustände lernen. So reguliert etwa ein Rudel Raubtiere seine Geburtenrate indirekt über das Nahrungsangebot (weniger Beute → weniger Nachwuchs). In sozialen Systemen wirken Kulturtechniken als Feedback-Speicher: Traditionen und Rituale sind oft Ergebnisse langen Lernens, welche Verhaltensnormen etablierten („Tabus“ gegen schädliches Verhalten). Moderne Institutionen haben einen Teil solcher Mechanismen formalisiert (z.B. wissenschaftliche Evaluation, Risikobewertungen). Doch häufig werden die Rückkopplungen ausgeblendet, wenn sie komplex oder unbequemer Natur sind (Klimawandel ist ein Beispiel für einen delayed feedback, der erst Jahrzehnte nach Emissionen greift und daher politisch ignoriert wurde).

Diese Regeln entziehen sich letztlich jeder Ideologie: Ob sie beachtet werden oder nicht, die Natur setzt sie durch. Systeme, die Minimum/Maximum dauerhaft missachten, hören auf zu existieren. Daher ist Verantwortung im plastischen Sinne kein abstrakter moralischer Begriff, sondern ein Funktionserfordernis: Verantwortung bedeutet, die Folgen des eigenen Handelns mitzubedenken und zu tragen, weil diese Folgen unweigerlich in das eigene System zurückwirken werden. Die Skulpturidentität hat Verantwortung oft ersetzt durch Selbstlegitimation („Ich habe Recht, weil ich es will / weil ein Gesetz es mir erlaubt / weil eine Ideologie es gutheißt“). Die plastische Identität hingegen bemisst Recht und Unrecht am Kriterium funktional vs. dysfunktional im Gesamtsystem. Damit ließe sich beispielsweise sagen: Ein Verhalten, das das ökologische Gefüge zerstört, ist faktisch falsch, auch wenn es gesetzlich erlaubt oder individuell gewollt sein mag, denn es untergräbt die Bedingungen, von denen alle abhängen (inklusive des Handelnden selbst). Hier zeigt sich die Kontextualisierung durch Elimination: Wenn man alle konstruierten Rechtfertigungen eliminierend weglässt, bleibt am Ende die nackte Frage: Trägt diese Handlung/System/Denkweise zum Erhalt des Ganzen bei oder nicht? Diese letztliche Kontextualisierung – alles in Bezug zum Ganzen zu setzen – ist das Kennzeichen eines plastischen, ganzheitlichen Ansatzes.

6. Neuorientierung: epistemischer Wandel und systemische Alternativen.

Die vorhergehende Analyse mündet in einer doppelten Stoßrichtung: Einerseits einer erkenntnistheoretischen Neuorientierung, andererseits einer kulturkritischen Diagnose, aus der eine systemische Alternativkonzeption folgt. Zentrale Kernhypothesen lassen sich zusammenfassen, welche den Übergang von der Skulptur- zur Plastikkonstellation rahmen:

  • (H1) Asymmetrische Naturhypothese: Natürliche Ordnungen basieren auf minimaler Asymmetrie. – Leben und stabile komplexe Prozesse erfordern ein leichtes Ungleichgewicht als Antriebskraft. Perfekte Symmetrie (50:50) entspricht dem Entropie-Maximum bzw. Stillstand, während eine 51:49-Verteilung dynamische Stabilität ermöglicht. Diese Hypothese wird durch zahlreiche Befunde gestützt: von der Biologie (dissymmetrische Körperstrukturen, leicht differentielle Gehirnhemisphären, enzyme kinetics mit Limiting Factors etc.symmetry.hu) bis zur Kosmologie (Symmetriebrüche in der frühen Expansion des Universums ermöglichten die Bildung von Materie gegenüber Antimaterie). Sie liefert eine Naturformel der Form “stabiles Leben = 51:49 (±1)”, zu verstehen als Sinnbild für gerade noch Ungleichheit, die Wandel treibt, ohne das System zu zerstören.
  • (H2) Symmetriedualismus-Hypothese: Das abendländische Denken verabsolutierte die Symmetrie und schuf damit einen Dualismus, der die Realität verzerrt. – Diese Hypothese besagt, dass die philosophisch-wissenschaftliche Tradition seit Platon einen Symmetriedualismus etabliert hat: klare Entgegensetzungen (Seele–Körper, Kultur–Natur, Subjekt–Objekt etc.), die auf der Annahme beruhen, beide Seiten seien trennscharf und in sich homogen. Diese 50:50-Teilung schafft zwar analytische Klarheit, ist aber letztlich eine Konstruktion, die fluidere Übergänge und Hierarchien in der Wirklichkeit ausblendet. So wird z.B. in der Anthropologie der Mensch als völlig andersartig gegenüber dem Tier gesehen (lange Zeit), obwohl biologisch nur graduelle Unterschiede bestehen. Oder in der Ökonomie wird zwischen „Ökonomie“ und „Ökologie“ getrennt, als handle es sich um unabhängige Systeme, während faktisch die Wirtschaft ein Subsystem der Ökosphäre ist. Die Hypothese unterstellt, dass viele Fehlentwicklungen (etwa externalisierte Umweltkosten, Ausbeutung „fremder“ Menschengruppen, technologischer Hybris) darauf beruhen, dass man die Einheit des Prozesses durch Dualismen zerlegte und dadurch scheinbar kostenlose Einflüsse annahm (die „Natur“ wurde zum unbegrenzten Außen, das man ohne Konsequenz nutzen konnte – ein Trugschluss).
  • (H3) Abhängigkeits- und Parasitenhypothese: Die körperlose Ideenwelt (Skulpturidentität) ist total abhängig von der physischen Welt, verhält sich aber wie ein Parasit. – Diese These verdeutlicht die Eigentums/ Besitz-Analogie aus Abschnitt 2 in schärferer Form: Der Eigentümer aller Existenz ist die Natur bzw. physikalische Realität, die Benutzer bzw. vorübergehenden Besitzer sind Menschen mit ihren kulturellen Konstruktionen. Die geistige/kulturelle Sphäre hat keine eigene ontologische Substanz – sie „borgt“ alle Ressourcen (Energie, lebende Körper, Aufmerksamkeit) von der Natur. Dennoch tendiert sie dazu, sich wie ein eigenständiges System aufzuführen, das über der Natur steht. Dieses Verhalten ist parasitär: Es entnimmt Nährstoffe (z.B. fossile Energie, menschliche Arbeitskraft) und gibt Abfall (z.B. CO₂, Müll, Burn-out) zurück, ohne für Kreislaufschluss zu sorgen. Die Hypothese warnt, dass ein solches System entweder zur Symbiose übergehen muss (d.h. die Kultur integriert sich ins natürliche Netzwerk und liefert dem Wirt – der Biosphäre – auch Nutzen zurück), oder es zerstört den Wirt und damit sich selbst. Die historische Neuheit ist hierbei relevant: Erst in den letzten wenigen Jahrhunderten (einer geologisch Augenblicksdauer) hat die menschliche Kultur eine derartige energieintensive, entkoppelte Form angenommen. Evolutionär „bewährt“ ist dieses Modell nicht – im Gegensatz etwa zu langfristigen Ko-Evolutionen wie Mykorrhiza-Pilzen und Pflanzen, die reziprok profitieren. Der Mensch als geologisch wirkmächtiger Faktor (Stichwort Anthropozän) wird nur überleben, wenn er vom Parasitismus zur Einbettung zurückfindet.
  • (H4) Bias-Hypothese (50:50 als Denkfehler): Die größte Störung entsteht durch die Projektion künstlicher Symmetrievorstellungen auf dynamische asymmetrische Systeme. – Diese Hypothese betrifft die Erkenntnisverzerrung: Wir missinterpretieren Realphänomene, weil unser Denkrahmen unpassend ist. Insbesondere werden Abweichungen in der Natur als Fehler gesehen, wo sie doch deren Funktionsprinzip sind. Ein Beispiel: In der Medizin galt lange ein statistischer Mittelwert als Idealnorm (etwa Blutdruck 120/80). Individuen, die davon abweichen, wurden als „defizitär“ betrachtet, anstatt die Variation als natürlich und teils funktional zu begreifen (ein sportlicher Mensch hat evtl. einen etwas niedrigeren Puls – das ist keine Krankheit). Generell führt der 50:50-Maßstab zu einem Identitätsdenken (im Sinne Hegels oder Adornos Kritik daran): Nur was ins Schema passt, wird als vollwertig erachtet; das „Nichtidentische“ – hier gleichzusetzen mit dem ungleichen 1% Abweichung – wird ausgeblendet oder bekämpft. Die Bias-Hypothese sagt, dass wir darum Krisen oft erst spät erkennen: weil unsere Modelle die Frühwarnzeichen wegfiltern. Zum Beispiel zeigten ökologische Indikatoren schon lange Ungleichgewichte an (Insektenrückgang, Klimarekorde), aber da kein linearer Trend ins Wunschbild passte, ignorierte man diese Daten als „Ausreißer“ oder stritt sie kontrovers statt proaktiv zu handeln. Erst wenn die Symmetrie vollends zusammenbricht (z.B. Offensichtlichkeit des Klimawandels in Extremereignissen), wird reagiert – dann oft hektisch und mit dem nächsten Bias, nämlich der Illusion, man könne das komplexe System durch einen singulären Eingriff reparieren (Geoengineering etc.). Aus epistemologischer Sicht fordert diese Hypothese ein radikales Umlernen: Nicht die Natur irrt, sondern unser Modell kann irren. Der Perfektionsanspruch gehört vom Podest geholt; Imperfektion ist nicht Mangel, sondern Informationsquelle.
  • (H5) Epistemisch-praktische Kopplungshypothese: Ein Wandel des Denkens (Epistemik) und ein Wandel des Handelns (Praxis) müssen gleichzeitig erfolgen, weil nur gekoppelt die nötige Korrektur erreichbar ist. – Diese abschließende Hypothese ergibt sich daraus, dass die bisherigen Fehlentwicklungen sowohl intellektueller Natur (falsche Paradigmen, Ideologien) als auch materieller Natur (institutionalisierte Gewohnheiten, Pfadabhängigkeiten) sind. Es reicht nicht, allein die Theorie zu korrigieren, solange die Praxis starr bleibt – und umgekehrt. Ein Beispiel: Die Wissenschaft kann noch so deutlich die 51:49-Logik der Nachhaltigkeit formulieren; wenn die Wirtschaft weiterhin kurzfristige Profitmaximierung (50:50-Logik eines Nullsummenspiels: Gewinn vs. Verlust) betreibt, verpufft die Erkenntnis. Genauso helfen technische Öko-Innovationen wenig, wenn die Denkmuster unverändert nach Wachstum und Beherrschung streben – sie werden dann nur in den Dienst des alten Paradigmas gestellt (Greenwashing, „Effizienz statt Suffizienz“-Trugschluss). Die Hypothese betont, dass Selbstlegitimation (Ideologie) und funktionale Einbettung (Realrückbindung) als zusammengedachte Kategorien behandelt werden müssen. Anders gesagt: Ein neues Weltbild muss emergieren, das in Wissenschaft und Gesellschaft verankert wird. Historisch steht die Menschheit hier vor einer seltenen Herausforderung eines gesamtgesellschaftlichen Lernprozesses, der sowohl kognitive Neubewertung wie Systemumbau verlangt – vergleichbar vielleicht mit der neolithischen Revolution (Übergang zur Sesshaftigkeit) oder der Aufklärung, aber unter Zeitdruck und globaler Abstimmung.

Diese Kernthesen stehen im Zentrum der vorgeschlagenen Neuausrichtung. Ziel ist es, eine erkenntnistheoretische Neuorientierung zu schaffen, die endlich den „Trick“ des Menschen (eine körperlose Perfektionswelt zu schaffen) als solchen durchschaut und sein Verhältnis zur Realität normalisiert. Dies ist zugleich eine kulturkritische Diagnose, insofern die bestehende Zivilisation als fehlgeleitet angesehen wird – jedoch unterscheidet sie sich von früheren Kulturpessimismen dadurch, dass sie ein konkretes Alternativmodell anbietet: die Plastische Identität im 51:49-Betriebssystem. Diese systemische Alternativkonzeption bedeutet nicht Rückkehr in vormoderne Zustände, sondern eine Integration von Wissen und Weisheit: Moderne wissenschaftliche Erkenntnisse über komplexe Systeme, Evolution, Neurobiologie etc. werden verbunden mit dem uralten Verständnis von Maß und Einbettung, das in vielen traditionellen Kulturen vorhanden war (und z.T. noch ist).

7. Schluss: Perspektiven einer kontexturalen Wende.

Am Ende läuft alles auf eine entscheidende Einsicht hinaus: Der Mensch muss lernen, dass er Produkt der Regelwerke und Benutzer der Regelwerke zugleich ist – so wie ein Computer, der sein eigenes Betriebssystem ausführt und gleichzeitig analysiert. Der “Betriebssystemwechsel” von 50:50 auf 51:49 bedeutet, dass wir unser Verhältnis zur Natur und zu uns selbst neu justieren.

Epistemisch heißt das, das Prinzip der Kontexturalität (Einbettung aller Teile ins Ganze) zum Leitmotiv zu machen. Der Begriff Kontexturalität signalisiert, dass Wahrheit und Wert immer nur im Gefüge eines Kontextes Sinn ergeben. Die isolierte Skulptur (der isolierte perfekte Gedanke, der isolierte Akteur) hat ausgedient; an ihre Stelle tritt das Netz aus Beziehungen, Spannungen und Rückwirkungen. Dieses Netzwerkdenken hat bereits in vielen Wissenschaften Fuß gefasst – von der Quantenphysik (nicht-lokale Zusammenhänge) über die Ökologie bis zur Soziologie (Netzwerktheorien der Gesellschaft). Es gilt nun, diese Erkenntnisse zu einem konsistenten Bild zu verweben, das breitenwirksam wird: einer neuen Aufklärung, die dem Menschen nicht mehr einredet, er sei Herren und Maß aller Dinge, sondern ihn lehrt, das Maß der Dinge zu achten, um Herr im eigenen Haus bleiben zu können.

Die vorliegende Arbeit ist ein Plädoyer für eine solche Wende. Sie liefert mit der Unterscheidung von Skulptur- und plastischer Identität ein begriffliches Werkzeug, um die Einseitigkeiten bestehender Theorien und Praktiken offenzulegen. Sie zeigt auf, dass die vielbeschworene Selbstbestimmung des modernen Individuums zur Farce wird, wenn sie ihre Existenzbedingungen leugnet – so wie ein Dieb zwar Besitzer einer gestohlenen Sache sein mag, aber nie ihr rechtmäßiger Eigentümer. Die körperlose Welt unserer Ideen und Modelle mag glanzvoll erscheinen, doch sie bleibt ein Schein-Eigentum, solange sie nicht mit der Wirklichkeit rückgekoppelt wird.

Es ist paradox und doch hoffnungsvoll: Gerade indem der Mensch akzeptiert, sich nicht selbst zu gehören, sondern Teil eines größeren, verletzlichen Prozesses zu sein, kann er die Verantwortung übernehmen, diesen Prozess mitzugestalten. Die Anerkennung der 51:49-Naturformel bedeutet, den Stolz der perfekten Symmetrie aufzugeben, um die demütige Harmonie der richtigen Proportion zu finden – jenes syn-métron der Griechensymmetry.hu, das kein starres Ideal meint, sondern ein angemessenes Verhältnis. Eine Zivilisation, die dies versteht, hört auf, eine parasitäre Kopie sein zu wollen, und beginnt, ein organischer Teil des Lebensnetzes zu werden. Die skizzierte kontexturale Wende wäre nichts Geringeres als eine Neubegründung der Aufklärung, bei der Selbstlegitimation und funktionale Einbettung eins werden: Der Mensch legitimiert sich, indem er funktioniert – und er funktioniert (nachhaltig), indem er sich nicht über das Maß erhebt. So schließt sich der Kreis zwischen Erkenntnis und Sein, Innen und Außen, Ich und Welt im konstruktiven Sinne. Die Herausforderung ist immens, doch die Alternative – am Ideal der Starrheit festhalten – wäre letztlich das Ende der Entwicklungsmöglichkeiten. In diesem Sinne versteht sich diese Abhandlung als Aufforderung zum Paradigmenwechsel: von der Skulptur zur Plastik, vom Mythos der perfekten Form zur Realität des lebendigen Prozesses.

Literatur und Quellenverweise:

  • Darvas, G.: Definition of Symmetry. Symmetry – Culture and Science (ISA). Online: symmetry.hu symmetry.husymmetry.husymmetry.hu.
  • Plato: Politeia (Die Ideenlehre und Höhlengleichnis). Siehe auch Zusammenfassung in Daily Philosophydaily-philosophy.com.
  • Descartes, R.: Meditationes de prima philosophia (1641). Dt. Meditationen. These des res cogitans vs. res extensa (Geist vs. Materie)iep.utm.edu.
  • Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft (1781). These von Raum und Zeit als Anschauungsformen, Dinge an sich unerkennbarplato.stanford.eduplato.stanford.edu.
  • Schrödinger, E.: What is Life? (1944). Konzept der negativen Entropie (Leben hält sich fern vom thermodynamischen Gleichgewicht)en.wikipedia.org.
  • Bateson, G.: Zitat nach Esko Kilpi (2017)medium.com, sinngemäß aus Steps to an Ecology of Mind (1972).
  • Rockström, J. et al.: Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity. In: Ecology and Society 14(2):32 (2009)giss.nasa.govgiss.nasa.gov.
  • Fang, X. et al.: Nonequilibrium physics in biology. In: Rev. Mod. Phys. 91, 045004 (2019). (Zitat: “Life is never at equilibrium. ...”).
  • Weitere indirekte Quellen sind im Text durch kontextuelle Verweise kenntlich gemacht (z.B. Horkheimer/Adorno 1944, Prigogine 1980 u.a.), auch wenn sie nicht einzeln ausgewiesen sind, da es sich um allgemeine Anlehnungen handelt.