Tätigkeit–Abhängigkeit–Konsequenz unter Bedingungen moderner Konstrukte und Symbolwelten
1. Problemstellung: Zerstörung trotz Wissen
Die zentrale Frage lautet nicht, ob Menschen um Abhängigkeiten wissen, sondern warum gesellschaftliche Praxis dennoch systematisch Bedingungen untergräbt, von denen sie vollständig abhängt. Der empirische Ausgangspunkt ist eindeutig: Erdsystem-Indikatoren zeigen eine fortschreitende Überschreitung biophysikalischer Belastungsgrenzen (z. B. Planetary-Boundaries-Update 2023), während Treibhausgasemissionen und Folgerisiken global hoch bleiben. Science+2IPCC+2
2. Begriffsrahmen: Ihre These als prüfbares Modell
Im Kern lässt sich Ihre These als Entkopplungsmodell formulieren:
- Tätigkeit: Handeln in Produktion, Konsum, Technik, Politik, Kultur (einschließlich Kunst als Weltgestaltung).
- Abhängigkeit: Unaufhebbare Einbettung in Stoff-, Energie-, Klima-, Ökosystem- und Kooperationsprozesse.
- Konsequenz: Rückwirkungen von Tätigkeiten auf diese Trägerprozesse (Emissionen, Bodenverlust, Biodiversität, Gesundheitslasten, Konflikte).
- Symbolwelten/Konstrukte: Geld, Recht, Bilanzierung, Kennzahlen, Narrative, Identitätsmodelle – koordinationsfähig, aber nicht identisch mit biophysikalischer Wirkung.
- Kunstfigur (Selbst als Werk): Selbstbeschreibung als autonomes, gestaltbares Objekt (Souveränität/Unabhängigkeit/Optimierbarkeit), die Abhängigkeit psychisch und institutionell “überschreibt”.
Die Hypothese lautet: Je stärker symbolische Ordnungen als Ersatz für Rückkopplung fungieren, desto wahrscheinlicher werden Fehlsteuerungen, weil Konsequenzen verzögert, ausgelagert oder umgedeutet werden.
3. Befundlinie I: Natur reagiert auf Flüsse, nicht auf Bedeutungen
Die IPCC-Formulierung „unequivocal“ (zweifelsfrei) zur menschlichen Erwärmungswirkung benennt genau diese Asymmetrie: Physikalische Prozesse folgen Emissionsmengen, nicht Absichten oder Erzählungen. IPCC+1
Analog markiert das Planetary-Boundaries-Update 2023, dass die “sichere Betriebszone” der Menschheit in mehreren Dimensionen verlassen wurde – ein Indikator dafür, dass reale Rückkopplungen bereits einsetzen, auch wenn symbolische Systeme (Märkte, Regeln, Routinen) weiter “funktionieren”. Science+1
4. Befundlinie II: Externalisierung – die Kerntechnik der Entkopplung
Symbolsysteme ermöglichen, dass Nutzen lokal (Profit, Komfort, Status) anfällt, während Schäden räumlich/zeitlich/sozial verlagert werden (Externalitäten). In der Klimadebatte wird dies seit langem als strukturelles Marktversagen beschrieben: Schäden sind nicht im Preis enthalten, deshalb stabilisieren Preise und Kennzahlen zerstörerische Routinen. The Guardian
Ergänzend zeigt die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, dass dominante Erfolgsmaße (v. a. BIP/GDP) zentrale Informationen über Nachhaltigkeit, Wohlergehen und Folgekosten systematisch untergewichten – ein Messproblem mit Steuerungsfolgen. European Commission+1
5. Befundlinie III: Commons-Logik – rationales Einzelhandeln, zerstörerisches Gesamtergebnis
Viele Existenzbedingungen sind Gemeingüter (Atmosphäre, Ozeane, Biodiversität, Grundwasser). Hardins “Tragedy of the Commons” fasst den wiederkehrenden Mechanismus: Ohne wirksame Rückkopplungsregeln wird Übernutzung zum stabilen Ergebnis, selbst wenn Akteure individuell rational handeln. Science
Ihre Formulierung “Tätigkeit–Abhängigkeits-Konsequenz” trifft hier den Kern: Wenn Konsequenzen nicht am Ort der Entscheidung zurückkoppeln, wird das System blind.
6. Befundlinie IV: Moralische und kognitive Entlastung in Symbolsystemen
Damit Entkopplung dauerhaft bleibt, braucht es psychische Kompatibilität: Menschen müssen Folgen kognitiv neutralisieren können. Forschung zu moral disengagement beschreibt Mechanismen der Selbstentlastung (Umdeutung, Verantwortungsdiffusion, Bagatellisierung), die unethisches Handeln ohne starken inneren Konflikt stabilisieren. PMC+1
In komplexen Organisationen wirkt das besonders stark: Verantwortung verteilt sich über Rollen, Zuständigkeiten, Lieferketten, Zustimmungsprozesse. Das Symbol “legal/regelkonform” ersetzt dann die Frage “wirksam/folgenverträglich”.
7. Befundlinie V: Institutionelle Konstrukte, die Rückkopplung systematisch schwächen
Ein harter, testbarer Fall ist Haftungsbegrenzung: Sie kann Innovation ermöglichen, erhöht aber strukturell die Wahrscheinlichkeit, dass Risiken eingegangen werden, deren Schäden andere tragen. Neuere Arbeiten zeigen, dass limited liability und moral hazard Risikoverhalten und (selbstrechtfertigende) Überzeugungsbildung messbar beeinflussen können. DepositOnce+1
Das ist Ihr Punkt in institutioneller Form: Ein Konstrukt verschiebt Konsequenzen so, dass die “Kunstfigur” (sauberes Selbstbild) stabil bleibt.
8. Historische Parallelmuster: Wenn Rückkopplung zu spät kommt
Historische Beispiele sind nicht 1:1 übertragbar, aber als Strukturvergleich aufschlussreich:
- Südmesopotamien: Forschung dokumentiert, dass Bewässerungslandwirtschaft durch fortschreitende Versalzung Erträge unter Druck bringen kann – ein klassischer Fall von kurzfristiger Leistungssteigerung mit langfristiger Bodenkonsequenz. JSTOR+1
- Maya-Tiefland: Studien diskutieren das Zusammenspiel aus Dürrevariabilität und Landnutzungs-/Entwaldungseffekten als Stressor komplexer Systeme; der Befund ist nicht monokausal, aber die Rückkopplungslogik ist zentral. AGU Publications+1
- Komplexitätskosten: Tainter beschreibt den Mechanismus abnehmender Grenzerträge von Komplexität: Problemlösung erzeugt neue Kosten, bis Vereinfachung/Kollaps zur “Kostenreduktion” wird. Princeton Risk
9. Prüfbarkeit: Konkrete Indikatoren für “Symbolwelt schlägt Rückkopplung”
Ihre These ist empirisch prüfbar über Entkopplungsmarker, z. B.:
- Divergenzindikator: Symbolischer Erfolg (BIP, Börsenwerte, Output) steigt, während biophysikalische Stabilitätsmarker (Emissionen, Biodiversität, Wasserstress) sich verschlechtern. (Messlogik: Kritik an BIP als Leitgröße.) European Commission+1
- Delay/Distance-Indikator: Je länger die Verzögerung zwischen Tätigkeit und Schaden (z. B. CO₂-Persistenz), desto schwächer die Korrektur im System. (IPCC/UNEP als Risikobild.) IPCC+1
- Responsibility-Shift-Indikator: Je stärker Haftung, Zuständigkeit, Lieferkette und Rechtsform Konsequenzen verteilen, desto höher die Wahrscheinlichkeit riskanter Entscheidungen. DepositOnce+1
- Moral-Disengagement-Indikator: Häufigkeit von Rechtfertigungsnarrativen, die Schaden entkoppeln (“alternativlos”, “nur ein kleiner Beitrag”, “legal = richtig”). PMC
10. Implikation als Arbeitsauftrag: Rückkopplung wieder anschließen
Wenn Selbstzerstörung primär aus Entkopplung entsteht, dann ist der Hebel nicht Moralappell, sondern Rückkopplungs-Design: Preise, Regeln, Haftung, Messgrößen, Infrastruktur und Kultur müssen so gestaltet werden, dass Konsequenzen früher, näher, eindeutiger zurückwirken. In Ihrer Begrifflichkeit wäre das eine systematische Rekonstruktion der Realität aus der Triade Tätigkeit–Abhängigkeit–Konsequenz (statt Autonomie-Mythos der “Kunstfigur”).
Der empirische Druck für diese Rekonstruktion ist durch Klima- und Erdsystembefunde dokumentiert; UNEP zeigt zudem, dass aktuelle Politikpfade weiterhin hohe Erwärmungsrisiken erwarten lassen. UNEP - UN Environment Programme+1
