Technische Form als Prinzip
Richard H. France versucht mit seinen Ausführungen zu zeigen, dass die gesamte Natur – sei es die unbelebte Materie oder lebende Organismen – denselben grundlegenden Formen und Gesetzen gehorcht, die er als „technische Formen“ bezeichnet. Die Natur entwickelt und nutzt stets die gleichen Grundformen, weil sie sich in verschiedensten Situationen und Funktionen als optimal erwiesen haben. Die Formgebung in der Natur ist für ihn kein zufälliger ästhetischer Prozess, sondern ein Ausdruck grundlegender physikalischer Gesetzmäßigkeiten, die für alle Prozesse des Seins gelten.
Im Gegensatz zur modernen Bionik, die sich auf die Übertragung biologischer Prinzipien in technische Anwendungen konzentriert, betrachtet France die historische Biotechnik als Ausdruck eines universellen, allumfassenden Naturgesetzes. Es ist wichtig, seine Gedanken im Kontext der damaligen Zeit zu verstehen und die Unterschiede zur Bionik von heute klar herauszustellen:
1. Verständnis der historischen Biotechnik
- Allumfassendes Naturgesetz: France versteht die Biotechnik als Ausdruck einer universellen Gesetzmäßigkeit, die nicht nur in biologischen, sondern auch in physikalischen und technischen Strukturen zum Tragen kommt. Er geht davon aus, dass die Grundformen, die er beschreibt – Kugel, Fläche, Stab, Schraube, Kegel usw. – in allen Bereichen des Seins auftreten, weil sie den physikalischen Gesetzen wie dem Gesetz des geringsten Widerstands folgen.
- Form und Funktion als Einheit: Jede Form hat ihre Funktion und ist die beste Lösung für ein bestimmtes Problem. Dies bedeutet, dass jede Form, die in der Natur entsteht, Ausdruck eines zugrunde liegenden Prozesses ist. Das Wesen der Biotechnik nach France liegt darin, dass Form und Funktion stets im Einklang stehen und dass diese Formgebung durch die Gesetze der Natur bestimmt wird.
- Gesetzmäßigkeit der Formbildung: France betont, dass jede Form in der Natur ein Resultat von Kräften wie Spannung, Druck und Bewegung ist. Diese Kräfte zwingen die Natur dazu, immer wieder dieselben Grundformen hervorzubringen, weil sie die stabilste und effizienteste Lösung darstellen. So entstehen etwa Schraubenformen in der Struktur von DNA-Molekülen genauso wie in der Bewegung von Bakterien oder in technischen Objekten wie Bohrern.
- Optimumprinzip: Jede Form strebt nach ihrem Optimum, was bedeutet, dass sich biologische und physikalische Strukturen so entwickeln, dass sie mit minimalem Energieaufwand maximale Effizienz erreichen. Dieses Prinzip ist zentral für seine Biotechnik.
2. Unterschied zur modernen Bionik
- Zielsetzung der Bionik: Die moderne Bionik ist darauf ausgelegt, die Effizienz und Funktionsweise natürlicher Systeme zu verstehen und diese Erkenntnisse in technischen Anwendungen zu nutzen. Sie zielt also darauf ab, die Natur als Modell zu nutzen, um technische Innovationen zu entwickeln.
- Abstraktion vs. direkte Anwendung: Während die Bionik biologische Prinzipien abstrahiert und in neue technische Systeme integriert (zum Beispiel das Prinzip der Selbstreinigung von Lotusblättern für schmutzabweisende Oberflächen), betont die historische Biotechnik nach France die Einheit von Natur und Technik, in der die gleiche Formgesetzlichkeit wirkt. Seine Vorstellung der Biotechnik ist umfassender, da sie die Einheit von biologischen und technischen Formen als Ausdruck derselben Gesetzmäßigkeit ansieht.
- Technik als Spiegel der Natur: France sieht alle menschlichen Erfindungen als Nachahmung der Natur an, aber in einem grundlegenderen, philosophischen Sinne als es die Bionik tut. Für ihn sind technische Formen wie Schrauben, Stäbe oder Bänder keine menschlichen Erfindungen, sondern notwendige Folgen der Naturgesetzlichkeit. Die Bionik hingegen betrachtet die Nachahmung der Natur eher als Inspirationsquelle und versteht sich als Brücke zwischen Natur und Technik.
3. Beispiele aus France' Werk:
- Schraubenform: Die Schraubenform findet sich nicht nur in Bakterien, die sich durch das Wasser bewegen, sondern auch in den Spiralen von Pflanzenranken, in den Flügeln von Propellern oder in den Schneckenformen von Häuserverzierungen. Diese Form entsteht laut France immer dann, wenn sich ein Körper durch Widerstand bewegt, weil die Spirale die beste Form ist, um durch ein Medium zu dringen. Dies ist für ihn kein Zufall, sondern ein Ausdruck eines universellen Gesetzes.
- Stabform: Alles, was stützen soll – sei es der Stamm eines Baumes, die Säule eines Gebäudes oder die Knochen des menschlichen Skeletts –, nimmt die Stabform an, weil sie die stabilste und effizienteste Form für diese Funktion darstellt. Auch hier zeigt sich die Gesetzmäßigkeit der Formbildung.
4. Zusammenfassung des Unterschieds
- Historische Biotechnik nach France: Ein universelles Prinzip, das die Gesetzmäßigkeit und Einheit von Form und Funktion in der gesamten Natur beschreibt. Die technischen Formen sind Ausdruck des Wesens der Dinge und stehen im Einklang mit den physikalischen Gesetzen der Welt. Technik ist keine separate Kategorie, sondern ein integraler Bestandteil der Natur.
- Moderne Bionik: Eine interdisziplinäre Wissenschaft, die biologische Prinzipien als Inspiration für technische Lösungen nutzt. Sie betrachtet die Natur als Vorbild und abstrahiert deren Prinzipien, um sie auf technische Probleme zu übertragen. Die Bionik ist pragmatischer und konzentriert sich auf konkrete technische Anwendungen.
Richard H. France's Konzept der Biotechnik geht über die Bionik hinaus, da es nicht nur die Nachahmung der Natur betont, sondern die tiefere, universelle Gesetzmäßigkeit in den Vordergrund stellt, die alle Formen und Prozesse des Seins bestimmt. In diesem Sinne kann die historische Biotechnik als eine umfassendere Weltanschauung verstanden werden, während die Bionik eine spezifische, anwendungsorientierte Disziplin darstellt.