Titel: Kunst als Erkenntnispraxis – Grundlagen einer plastischen Kunsttheorie10.4.2025
Die hier entwickelte Kunsttheorie versteht Kunst nicht als dekoratives Beiwerk oder illustratives Medium, sondern als eigenständige Erkenntnispraxis, die zwischen den klassischen Polen von Wissenschaft, Philosophie und Alltagserfahrung operiert. Aufbauend auf einer plastischen Ontologie, die Welt nicht als Substanz, sondern als dynamisch rückgekoppeltes Spannungsverhältnis beschreibt, wird künstlerisches Handeln als eine Form aktiver Welterschließung begriffen. Die zentrale These lautet: Kunst ist Erkenntnis, insofern sie Spannungen sichtbar macht, Begriffe als Gussformen nutzt und das Verhältnis von Geist und Materie verkörpernd erfahrbar macht.
Im Zentrum dieser Theorie steht die Einsicht, dass Erkenntnis nicht nur im Modus rationaler Abstraktion oder empirischer Verifikation möglich ist, sondern auch im leiblich-situativen, materiell-sinnlichen und prozessual-unsicheren Tun. Kunst operiert im Modus der 51:49-Weltformel: Sie balanciert die Kräfte von Idee und Stoff, von Intuition und Technik, von Gedanke und Geste. Dieses minimale Ungleichgewicht – ein funktionales Asymmetrieprinzip – erzeugt jene Dynamik, in der Form entstehen kann, ohne zur bloßen Reproduktion zu werden.
Kunst als Erkenntnispraxis entfaltet sich im Spannungsfeld von Denken, Material, Körper und Zeit. Künstlerisches Handeln ist kein bloßes Ausdrücken innerer Zustände, sondern eine verkörperte Denkpraxis, die den Widerstand des Materials ebenso ernst nimmt wie die Kontingenz des Scheiterns. Die Form, die im künstlerischen Prozess entsteht, ist kein statisches Produkt, sondern ein temporäres Gleichgewicht im Rückkopplungsfeld von Intention, Medium und Kontext.
Diese Erkenntnisform ist nicht objektivierbar im klassischen Sinne. Sie ist relationell, situativ und resonant. Wahrheit zeigt sich nicht als Übereinstimmung von Aussage und Fakt, sondern als spürbare Tragfähigkeit eines Verhältnisses. Kunstwerke sind dabei nicht Träger vordefinierter Inhalte, sondern Orte epistemischer Verdichtung – Spannungsräume, in denen Welt, Körper und Bedeutung in neue Konstellationen treten.
Das Dinge-Welt-Modell macht diese Konstellationen exemplarisch sichtbar. Künstlerische Objekte – etwa eine vergoldete Schultafel, eine Gold-Kartoffel oder ein Quadratmeter Eigentum auf nassem Sand – transformieren Alltagsdinge zu Trägern einer reflexiven Weltsicht. Sie verkörpern Verhältnisse, die sich semantisch, materiell und symbolisch überlagern. In solchen Konstellationen zeigt sich, dass Erkenntnis nicht über das Entfernen des Subjekts vom Objekt, sondern über die Vertiefung des Verhältnisses zwischen beiden geschieht.
Scheitern, Zweifel und Loslassen gelten in dieser Theorie nicht als Defizite, sondern als methodische Schlüssel. Wo klassische Wissenschaft auf Reproduzierbarkeit und Kontrolle zielt, kultiviert die Kunst das offene Spiel mit Ungewissheit, Zeitlichkeit und Prozess. Erkenntnis wird hier nicht garantiert, sondern riskiert – ein tastendes Maßnehmen im Spannungsfeld von Idee und Widerstand.
In diesem Sinn schlägt die Kunsttheorie neue Maßstäbe für Wahrheit und Weltverstehen vor: Wahrheit als Resonanz statt als Korrelation; Wirklichkeit als Mitwirklichkeit statt als Gegebenheit; Verstehen als dialogischer, leibgebundener Vollzug statt als objektive Erfassung. Die Kunst eröffnet hier ein alternatives Erkenntnismodell, das ganzheitlich, verkörpert, asymmetrisch und plastisch ist – anschlussfähig für Pädagogik, Wissenschaft, Politik und Gestaltung.
Kunst wird so zur plastischen Membran zwischen Welt und Subjekt, zur Schule des Gemeinsinns, zur Ethik in Handlung. Nicht als Regel, sondern als Haltung. Nicht als Illustration, sondern als Formgebung. Ihre Leistung liegt darin, dass sie erkenntnisfähig macht, wo andere Systeme stumm werden – im Übergang, im Bruch, im Ding. In einer Zeit wachsender Repräsentationsmüdigkeit und Symboldiffusion erinnert sie daran: Erkenntnis ist kein Besitzstand. Sie ist ein Spannungsverhältnis, das gehalten, verformt und gemeinsam neu gegossen werden muss.