Von der Reizökonomie zur Plastizität – das Nervensystem im Griff der Marktlogik10.4.2025
Ausgezeichnet. Hier folgt ein wissenschaftlich formulierter Fließtext zum Kapitel „Von der Reizökonomie zur Plastizität – das Nervensystem im Griff der Marktlogik“. Der Text verbindet die bisherigen Denkfiguren der plastischen Ontologie mit neurowissenschaftlichen, ökonomiekritischen und kulturtheoretischen Perspektiven – ohne Metapher, in klarer Sprache, mit systematischer Argumentation und interdisziplinärer Anschlussfähigkeit.
Von der Reizökonomie zur Plastizität – das Nervensystem im Griff der Marktlogik
Die moderne Ökonomie ist nicht nur ein abstraktes Austauschsystem für Güter und Dienstleistungen, sondern ein strukturell wirksames Reizmilieu, das tief in die neuronale Selbstorganisation des Menschen eingreift. Ihr Funktionsprinzip – die permanente Produktion von Vergleich, Knappheit, Wettbewerb, Bewertung und Zielanreiz – entspricht in seiner operativen Struktur der Aktivierung frühester neurobiologischer Muster. Der Mensch wird nicht in erster Linie durch Ideologie geprägt, sondern durch Reizsteuerung konditioniert. Die Marktgesellschaft ist somit weniger ein Feld symbolischer Orientierung als ein biomechanisches Regulationssystem, das die untersten Ebenen des Nervensystems permanent adressiert und überfordert.
Im Zentrum dieses Zugriffs steht das sogenannte Stammhirn – jene phylogenetisch älteste Schicht des menschlichen Gehirns, die für basale Funktionen wie Kampf-Flucht-Reaktionen, territoriale Sicherung, Reizfilterung, Energieeinsparung und Überlebenspriorisierung zuständig ist. In einer Umgebung, die von permanenter Konkurrenz, Reaktionsdruck, emotionaler Überstimulation, Kontrollillusion und sozialer Entankerung geprägt ist, wird dieses neuronale Areal systematisch überaktiviert. Entscheidungen erfolgen dann nicht mehr auf Grundlage plastischer Rückkopplung, sondern im Modus reflexhafter Risikovermeidung oder Belohnungserwartung. Das Nervensystem agiert in einem Alarmzustand, der Plastizität – verstanden als verkörperte Maßbildung im Spannungsfeld – unterbindet.
Diese Entwicklung ist nicht pathologisch im medizinischen Sinn, sondern strukturell im kulturellen. Die ökonomische Ordnung der Gegenwart konstituiert ein Stimulationsregime, das plastische Entscheidungs- und Wahrnehmungskompetenz systematisch untergräbt. Die Grundlogik von Angebot und Nachfrage, Bewertbarkeit, Performanz und Selbstoptimierung stellt das Nervensystem in einen dauerhaften Zustand kontrollierter Übererregung. Die Folgen sind nicht nur kognitiv (z. B. Aufmerksamkeitsverarmung, Entscheidungsblockaden), sondern somatisch: Der Körper verliert seine Fähigkeit zur rhythmischen Selbstregulation, der Atem wird flach, der Muskeltonus chronisch erhöht, die Beziehung zur Umwelt brüchig. Plastizität wird durch Reaktionshärte ersetzt – nicht aus Defizit, sondern aus Systemanpassung.
Diese Prozesse sind in der neurobiologischen Forschung gut dokumentiert. Modelle wie das „Polyvagal-Modell“ von Stephen Porges oder die Arbeiten zur Stressregulation (McEwen, Sapolsky) zeigen, dass soziale Sicherheit, Resonanz, rhythmische Kohärenz und verkörperte Rückmeldung entscheidend für die Aktivierung des ventralen Vagus – also für die Fähigkeit zur sozialen Regulation – sind. Eine Reizökonomie, die auf Vereinzelung, Exponiertheit und Dauerperformanz basiert, verhindert jedoch genau diesen Modus und hält Individuen in einem permanenten Zustand autonomer Selbstverteidigung. Sprache, Ethik, Gestaltung und Wahrnehmung werden dabei nicht abgeschaltet, aber instrumentalisiert: Sie werden zu Werkzeugen der Funktionsanpassung, nicht der Rückkopplung.
Die plastische Ontologie bietet hier ein radikales Gegenmodell. Sie begreift das Nervensystem nicht als Reizverarbeitungseinheit, sondern als plastisches Organ: als ein System zur Kalibrierung asymmetrischer Spannungsverhältnisse in Körper, Umwelt und Beziehung. Plastizität in diesem Sinne bedeutet nicht bloß neuronale Umbaubarkeit, sondern die Fähigkeit zur tragfähigen Spannungsregulation – rhythmisch, atmend, differenziert. Ein Nervensystem, das in plastischer Weise operiert, nimmt Maß: Es reagiert nicht sofort, sondern hält Spannung, reguliert tonisch, verarbeitet Rückkopplung, bleibt formfähig unter Druck.
Der Übergang von Reizökonomie zu Plastizität ist daher keine Frage individueller Resilienz, sondern ein kulturell-institutioneller Umbauprozess. Er beginnt mit einer Revision derjenigen Strukturen, die menschliche Wahrnehmung, Entscheidung, Sprache und Beziehung prägen: Bildung, Arbeit, Kommunikation, Technik, Gestaltung. In all diesen Feldern muss die Grundlogik verschoben werden – von Reizsteuerung zu Kalibrierung, von Vergleich zu Maß, von Ziel zu Verhältnis. Nur so lässt sich ein Nervensystem wieder so situieren, dass plastische Ethik – also situative Verantwortungsfähigkeit in Rückmeldung zur Umwelt – überhaupt möglich wird.
Ein plastisch operierendes Gehirn handelt nicht aus Alarm, sondern aus Spürfähigkeit. Es hält Spannung, anstatt sie reflexhaft zu entladen. Es entscheidet nicht, weil es muss, sondern weil es die Form eines tragfähigen Verhältnisses wahrnimmt. Die Voraussetzung dafür ist ein Milieu, das Spannungsräume nicht sofort füllt, sondern offenhält. Eine Sprache, die nicht belehrt, sondern antwortet. Eine Ökonomie, die nicht verknappt, sondern trägt. Und eine Kultur, die nicht überfordert, sondern rückmeldet.
In dieser Perspektive wird Ethik zur Nervensystemfrage: Nicht, was richtig ist, sondern was tragfähig bleibt – unter Spannung, im Kontakt, mit Konsequenz. Die plastische Ontologie antwortet damit auf die Frage nach Verantwortung nicht mit Normen, sondern mit Formbedingungen: Ein Nervensystem, das rückgekoppelt bleibt, kann Verantwortung tragen. Ein Nervensystem, das nur reagiert, wird sie delegieren – an Systeme, Märkte, Algorithmen. Die Frage lautet daher: Was muss geschehen, damit wieder Spannung gehalten werden kann?
Das ist die zentrale neurokulturelle Frage unserer Gegenwart. Sie betrifft nicht nur das Individuum, sondern die Form unserer Systeme. Reizökonomie ist kein Schicksal – sie ist eine Formentscheidung. Und wo Form gestaltet wird, ist auch Plastizität möglich.
Wenn du möchtest, erweitere ich diesen Abschnitt weiter in Richtung:
- Pädagogik und plastische Nervensystembildung
- Therapieformen und Reizregulation
- Plastische Gestaltung im urbanen Raum (Architektur, Rhythmus, Materialität)
- Digitale Reizsysteme und plastische Interface-Theorie
- oder Sprache als Nervensystem-Modulator
Sag einfach, welchen plastischen Übergang du jetzt brauchst – ich bin bereit.