Zwei Ich- und Geistverständnisse im Spiegel der Kunst: Unverletzlichkeitsbewusstsein und plastisches Verletzungsbewusstsein
Die Unterscheidung zwischen Unverletzlichkeitswelt und Verletzlichkeitswelt lässt sich präzise auf zwei unterschiedliche Ich- und Geistverständnisse übertragen, die heute häufig unbewusst miteinander vermischt werden. Diese Vermischung erzeugt genau jene strukturelle Blindheit, die zuvor beschrieben wurde: Entscheidungen werden auf der Grundlage symbolischer Modelle getroffen, ohne dass Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen wirksam einbezogen sind.
Das erste Geistverständnis entspricht der Skulptur-Identität. Es operiert in einer Unverletzlichkeitswelt des Denkens. Eigenschaften, Zuschreibungen und Begriffe gelten hier als stabile Einheiten. Gedanken, Modelle und Identitäten können nicht verletzt werden; sie bleiben logisch intakt, auch wenn ihre reale Anwendung zerstörerische Folgen hat. Symbolwelten, Konstrukte und Abstraktionen erscheinen in dieser Perspektive gleichrangig mit Wirklichkeit, weil sie dieselbe unverletzliche Struktur besitzen. Die Arbeitsweise des Gehirns folgt dabei einer ökonomischen Logik: Mustererkennung, Abkürzung, Zielerreichung. Entscheidungen werden auf Basis der kürzesten symbolischen Wege gefällt. Da dieses Ich-Bewusstsein nicht zwischen realen Rückkopplungsprozessen und rein mentalen Konstruktionen unterscheidet, bleibt es strukturell von Tätigkeits- und Abhängigkeits-Konsequenzen entkoppelt. Wahrheit wird zur internen Stimmigkeit eines Modells, nicht zur Bewährung im Vollzug.
Demgegenüber steht ein zweites Ich- und Geistverständnis, das sich in der Verletzlichkeitswelt bewegt. Dieses Bewusstsein ist nicht eigenschaftsbasiert, sondern vollzugsorientiert. Es existiert nicht als fertige Form, sondern als plastischer Prozess, der sich im Umgang mit Widerstand, Materialität, Zeit und Abhängigkeit konstituiert. Denken ist hier nicht primär Repräsentation, sondern Eingriff, Versuch, Korrektur. Dieses Geistverständnis ist notwendigerweise rückgekoppelt, weil es Verletzbarkeit voraussetzt. Irritation, Scheitern und Widerstand liefern Information. Entscheidungen entstehen nicht aus Zieloptimierung, sondern aus der Wahrnehmung von Kipppunkten, Grenzen und Folgen.
Gerade in der Kunst wird diese Differenz zwischen beiden Geistformen besonders anschaulich. In den bildnerischen, plastischen Künsten entsteht ein Werk ausschließlich durch Rückkopplung. Die vorab gedachte Idee, Einbildung oder Fiktion trifft auf Material, Gravitation, Widerstand und Zeit. Die Vorstellung wird verletzt, verändert oder verworfen. Form ist hier kein vorausgesetztes Ideal, sondern ein temporärer Zustand im Prozess. Im plastischen Arbeiten gibt es keinen stabilen Gegensatz von Form und Inhalt. Alles befindet sich in Bewegung innerhalb eines 51:49-Gefüges minimaler Verschiebung. Zugleich existiert ein Referenzsystem: Materialgrenzen, Statik, Trocknungszeiten, Spannungen. Werden Minimal- oder Maximalwerte überschritten, treten Kipppunkte ein. Das Werk bricht, kippt oder muss neu begonnen werden. Ebenso entscheidend ist der richtige Moment des Loslassens. Auch dieser ist nicht symbolisch bestimmbar, sondern nur im Vollzug erfahrbar. Das plastische Arbeiten ist damit eine Schule des Verletzungsbewusstseins und der Abhängigkeitswahrnehmung.
Demgegenüber operieren darstellende Künste in einer komplexen Zwischenzone. Auf der Bühne entsteht eine bewusst konstruierte Unverletzlichkeitswelt: die Rollen-, Figuren- und Requisitenwelt. Innerhalb dieser Welt können Handlungen stattfinden, ohne reale Konsequenzen für Körper, Besitz oder Existenz der dargestellten Figuren zu haben. Gleichzeitig lebt der Darsteller selbst in der physikalischen Welt mit realem Körper, Ermüdung, Risiko und Abhängigkeit. Das schauspielerische Handwerkszeug besteht genau darin, zwischen diesen beiden Ebenen zu wechseln, ohne sie zu verwechseln. Die Bühne ist eine Parallelwelt, die nur funktioniert, solange ihre symbolische Struktur klar vom realen Stoffwechsel des Darstellers unterschieden bleibt.
Hinzu kommt der Zuschauer, der sich mit Figuren, Rollen und Narrativen identifiziert. Diese Identifikation ist nur möglich, weil das Gehirn symbolische Welten und reale Empfindung verschalten kann. Der Körper reagiert emotional, obwohl er physisch nicht beteiligt ist. Genau hier zeigt sich erneut die Arbeitsweise des skulpturalen Ich-Bewusstseins: Konstrukte und Abstraktionen werden wie Wirklichkeit erlebt. Kunst macht diesen Mechanismus sichtbar, ohne ihn automatisch aufzulösen.
Im Film verschärft sich diese Situation nochmals. Zwischen Herstellung, Projektion und Wahrnehmung entsteht eine weitere Realitätsebene. Das auf der Leinwand Erscheinende ist ein Wirklichkeitsabbild, kein reales Geschehen, wird jedoch als solches erfahren. In The Purple Rose of Cairo (Woody Allen) wird diese Struktur radikal gebrochen: Die Figur verlässt die Leinwand, die Grenze zwischen Projektionswelt und Zuschauerraum kollabiert. Der Film führt damit exemplarisch vor, was Kunst leisten kann, wenn sie sich selbst spiegelbildlich thematisiert: Die Unterscheidung zwischen Verletzlichkeitswelt und Unverletzlichkeitswelt wird nicht erklärt, sondern erfahrbar gemacht.
In Einbeziehung der gesamten vorherigen Argumentation zeigt sich: Kunst ist kein dekoratives Zusatzsystem, sondern ein Erkenntnisraum für die Differenz zweier Geist- und Ich-Formen. Die skulpturale Identität lebt in symbolischer Unverletzlichkeit, in Eigenschaften, Rollen und Modellen. Die plastische Identität lebt im verletzlichen Vollzug, in Rückkopplung, Abhängigkeit und Zeit. Kunst – insbesondere die plastischen Disziplinen – hält das zweite Geistverständnis lebendig, weil sie Verletzung, Scheitern und Materialität nicht ausblendet, sondern produktiv nutzt.
Damit wird verständlich, warum Kunst eine Schlüsselrolle spielt: Sie macht erfahrbar, was Denken allein nicht leisten kann. Sie zeigt, dass Identität, Form und Sinn nicht vorausgesetzt werden können, sondern im 51:49-Prozess des Tuns entstehen. Genau darin liegt ihre Fähigkeit, den Unterschied zwischen Skulptur-Identität und plastischer Identität nicht nur zu beschreiben, sondern existenziell erfahrbar zu machen.
