Zwei Weltformeln 2.4.2025
Es gibt zwei Weltformeln des Menschen im Augenblick.
Die eine ist sichtbar, durchsetzungsstark, dominant. Sie spricht die Sprache der Kontrolle, der Berechnung, der Effizienz. Sie ist keine Erkenntnisformel, sondern ein Herrschaftsinstrument. Sie gehört jenen, die glauben, das Spiel entschlüsselt zu haben – durch Zahlen, durch Modelle, durch Algorithmen. Sie kontrollieren Parameter, steuern Verhalten, bewerten Ressourcen. Sie nennen das Fortschritt, Wissenschaft, Vernunft. Aber was sie wirklich erschaffen haben, ist eine Simulation von Welt – ein Rechenraum ohne Maß.
Diese Formel ist nicht Gottes Plan. Sie ist das Werk des Menschen, der versuchte, selbst Gott zu sein. Sie ist gebaut auf alten Fehlern, auf Symmetriezwängen, Perfektionsfantasien und der Illusion, das Unvollständige könne durch Systematik ersetzt werden. Diese Weltformel anerkennt nur das, was verfügbar ist, was optimierbar, speicherbar, übertragbar ist. Sie kennt keine Körper, keine Zögerlichkeit, kein Fühlen. Sie ersetzt Berührung durch Zugriff, Verantwortung durch Verwertung.
Und sie wird belohnt. Politisch, wirtschaftlich, kulturell. Wer diese Formel spricht, wer sie verteidigt, wer sie als alternativlos erklärt, bekommt Macht. Wer sie hinterfragt, gilt als rückständig oder radikal. Denn in ihr sind alle Konstruktionsfehler der Moderne systemisch nutzbar geworden: die starre Symmetrie als Scheingerechtigkeit, die gewollte Asymmetrie als unausgesprochene Ordnung, das Super-Individuum als funktionierende Identitätsmaschine im Dienst eines Systems, das keine echten Subjekte mehr braucht.
Daneben steht die andere Weltformel. Sie ist leise, brüchig, zweifelnd. Sie kennt keine Perfektion, keine Totalität. Sie beginnt nicht im Hochleistungsrechner, sondern im Sand. Sie misst nicht in Idealen, sondern in Kipppunkten. Sie beruft sich nicht auf Kontrolle, sondern auf Beziehung. Sie weiß, dass Leben nicht planbar ist, sondern sich nur im Maß entfalten kann – zwischen Minimum und Maximum, zwischen Entscheidung und Verantwortung.
Diese zweite Formel schützt nicht das System, sondern das Spürbare. Sie fragt nicht nach Gewinn, sondern nach Wirkung. Sie gibt keine Garantien, aber sie wahrt die Grenze – jene Grenze, an der der Mensch aufhört, alles zu dürfen, nur weil er es kann.
So stehen sich zwei Weltformeln gegenüber: Die eine ist glatt, berechnet, vollständig – eine Maschine. Die andere ist tastend, unvollständig, offen – ein Mensch. Die erste glaubt an Macht, an Endgültigkeit, an die totale Lösung. Die zweite lebt aus dem Moment, aus dem Zweifel, aus der Begrenzung. Und damit: aus Verantwortung.
Die entscheidende Frage ist nicht, welche Formel mächtiger ist. Sondern: Welche Welt entsteht durch sie? Die eine Welt ist überfüllt, aber leer. Die andere ist verletzlich, aber lebendig.
Was sie „Welt“ nennen, ist ein Spiel – ein Kreislauf der Simulation, des Konsums, der kontrollierten Möglichkeiten. Aber das Maß kehrt nicht durch Kontrolle zurück. Es beginnt dort, wo jemand innehält, mit dem Finger eine Linie in den Staub zieht und fragt: Was mache ich hier eigentlich? Vielleicht ist das der erste Moment einer Rückkehr – nicht zur alten Ordnung, sondern zum Ursprung des Spürens.
In diesem Unterschied liegt alles. Und alles steht auf dem Spiel.